DAS 5. OPFER
ihre Tante an, wartete.
Lorraine riss die Augen auf. »Du denkst doch nicht, dass ich das war?« Sie berührte mit einer Hand ihre Brust und ließ sie dort liegen, fummelte an einer der Taschen ihrer uralten, fleckigen Fischerweste herum.
»Nein, nicht direkt. Aber ich muss wissen, wer sonst noch von dem Asyl wusste.«
»Ich habe es dir gesagt«, sagte Lorraine mit zusammengebissenen Zähnen. »Du und Tara. Ich bin keine Idiotin, Regina. Denkst du nicht, ich habe eine Vorstellung davon, was hier auf dem Spiel steht? Ich habe kein Wort zu irgendjemand anderem gesagt, und mir gefällt die Folgerung nicht, dass ich eine schrullige alte Dame bin, die ihren Mund nicht halten kann. Du solltest wissen, dass ich nur die besten Absichten habe, was deine Mutter betrifft.«
»Oh, wirklich?«, sagte Reggie. »Das ist aber eine Kehrtwende, oder?« Denkst du, dass ich vergessen habe, was du getan hast? Du hast sie aus ihrem eigenen Haus geworfen, Lorraine!« Reggie biss sich auf die Zunge, bevor sie den Gedanken laut beenden konnte: direkt in die Arme des Mörders.
Lorraines ganzer Körper versteifte sich. Sie drehte sich von Reggie weg und ließ heißes Wasser in die Spüle laufen. Der Dampf stieg auf und Lorraine lehnte sich nach vorn, hielt sich an der Arbeitsfläche fest, als würden ihre Beine sie nicht länger tragen; sie sah aus wie eine Frau, die von Nebel eingehüllt ist.
»ES WANDELN ENGEL UNTER UNS«, sagte Vera. »Sie sind als Menschen verkleidet. Manchmal tragen sie Lumpen. Manchmal Geschäftsanzüge. Man weiß nie, wann man einem begegnen könnte. Das hat Schwester Dolores gesagt.«
»Schwester Dolores klingt wie eine kluge Frau«, sagte Tara. Sie hatte eine Plastikwanne mit warmem Wasser und wusch Vera mit einem Schwamm ab. Vera war zur Hälfte nackt, ihre Hüften und Beine waren mit einer Decke bedeckt, ein Handtuch war über ihre Schultern gelegt. Ihre Brüste hingen wie leere Säcke auf ihre hervorstehenden Rippen herunter. Jeder Knochen schien durch die papierdünne Haut sichtbar zu sein.
Reggie hatte hastig die Tür ihrer Mutter geöffnet und stand nun wie festgefroren im Türrahmen. Sie blickte von ihrer Mutter weg und auf den Boden, fühlte sich wie ein Eindringling.
Tara blickte auf, die Unterbrechung überraschte sie anscheinend nicht. »Ich mache nur deine Mutter sauber. Wir sind in einer Minute fertig.« Sie ließ den Waschlappen in die Wanne fallen und hatte angefangen, Veras Haus sanft mit einem Handtuch abzutupfen.
»Wir müssen reden«, stammelte Reggie, sich daran erinnernd, warum sie gekommen war, während sie rückwärts in den Flur zurückging.
»Lass mich das hier beenden, dann bin ich ganz für dich da.« Sie trocknete Vera vorsichtig ab, hob ihre Beine und Arme sanft an, benutzte dabei kunstvoll die Decken und Handtücher, um den Teil von Vera abzudecken, an dem sie gerade nicht arbeitete, rieb den Stumpf trocken, an dem ihre rechte Hand gewesen war, als gäbe es keinen Unterschied zu ihrem anderen Arm. In ihrem Blick lag weder Abscheu noch Entsetzen. Sie summte eine kleine Melodie, während sie arbeitete, gab beruhigende Worte von sich – »Wir sind fast fertig, Vera. – Lasse ich Sie zu sehr frieren? Tut mir leid, meine Liebe, wir haben es fast geschafft.«
Vera lächelte zu Tara auf. »Ich denke, Sie sind einer«, sagte sie, ihre Stimme war kaum mehr als ein Flüstern.
»Ich bin ein was?«, fragte Tara und streute Babypuder auf Veras Oberkörper.
»Ein Engel.«
»Perfekt, denn ich denke, Sie sind ebenfalls einer«, sagte Tara und lächelte auf sie herab, zog Vera vorsichtig ihr Schlafanzugoberteil an.
Vera schloss ihre Augen und sank mit einem Ausdruck völliger Ruhe auf ihrem Gesicht in das Kissen zurück. Tara griff sich das Badezubehör und trug es an Reggie vorbei, den Flur entlang in das Badezimmer. Sie wusch sich die Hände, seifte sorgfältig jeden Finger ein, während Reggie sich im Türrahmen des Badezimmers herumdrückte. Taras Ärmel waren hochgeschoben und Reggie starrte auf ihre Arme, erinnerte sich an die Narben, dachte, sie könnte die schwachen Umrisse noch sehen. Tara bemerkte ihren Blick, und Reggie sah peinlich berührt weg. Dann trafen sich ihre Blicke im Spiegel des Medizinschrankes.
»Du hast nicht zufälligerweise mit Martha Paquette geredet, oder?«
»Mit wem?«
»Der Frau, die Neptuns Hände geschrieben hat.«
Tara warf ihr einen skeptischen Blick zu. »Nein. Ich wüsste nicht, warum sie zu mir gekommen sein sollte. Ich wusste über die Morde
Weitere Kostenlose Bücher