DAS 5. OPFER
triffst.«
»Jetzt?«, fragte Reggie. Sie versuchte, sich umzudrehen, um ihre Mutter ansehen zu können, aber Vera hielt Reggie fest. Die Stärke ihrer Mutter überraschte sie oft. Aber andererseits war dies die Frau, die einen riesigen Hund durch die Luft gewirbelt hatte, um sie zu retten. Reggie streckte unter der Bettdecke die Hand aus und berührte die vernarbte Hand ihrer Mutter, während sie sich daran erinnerte.
»Nein, Dummerchen. Morgen. Triff mich an der Bowlingbahn. Um sieben Uhr abends. Wirst du kommen, Regina? Bitte sag, dass du kommst.« Ihre Stimme klang hoffnungsvoll, flehend. Die Worte summten an Reggies Nacken wie besorgte Bienen.
»Okay. Ich werde dort sein.«
»Gutes Mädchen«, sagte sie und küsste Reggies Wange. »Oh, und tu mir einen Gefallen, ja? Sag kein Wort über meine Neuigkeit zu Lorraine. Ich will es ihr selbst sagen. Aber ich will, dass du ihn zuerst triffst.«
»Was immer du sagst«, sagte Reggie zu ihr.
»Gutes Mädchen«, sagte sie und küsste Reggies Ohr. »Wir werden in einem richtigen Haus leben. Uns vielleicht ein paar Katzen anschaffen. Einen Blumengarten haben. Ein nettes, normales Leben. Das würde dir gefallen, Liebes, oder?« Sie klang so seltsam wehmütig, es war, als würde sie Sätze aus einem ihrer Stücke aufsagen.
»ICH WILL, DASS DU jetzt dieses Haus verlässt!« Lorraine stand in der Türöffnung zu Reggies Zimmer, das Licht aus dem Flur fiel überall um sie herum herein. Ihr Gesicht lag im Schatten, doch der Umriss ihres Körpers schien zu glühen. Reggie sah auf die Uhr. Es war kurz nach drei. Sie waren eingeschlafen.
Vera schlüpfte unter der Decke hervor und stand wortlos auf.
»Mom, warte!« Reggie fing an, aus dem Bett zu steigen. »Tante Lorraine, wovon redest du?«, stammelte Reggie. »Es ist mitten in der Nacht …«
»Schhh, mach dir keine Sorgen, Kleines«, sagte Vera. »Alles wird gut werden. Geh einfach wieder ins Bett.«
»Aber …«, fing Reggie an.
»Alles ist unter Kontrolle«, versprach Vera. »Schlaf jetzt ein bisschen.«
Vera verließ den Raum und schloss leise die Tür hinter sich. Reggie konnte sie im Flur streiten hören. Sie kroch aus dem Bett, tappte über den Boden und presste ihr gutes Ohr an die Tür.
»Wie kannst du es wagen, mich vor meiner Tochter herabzusetzen?«, sagte ihre Mutter.
»Ich habe deutlich gemacht, dass ich das nicht tolerieren werde«, sagte Lorraine. »Das ist hier nicht irgendeine Absteige, in der du kommen und gehen kannst, wie es dir gefällt. Was denkst du, was es bei Regina anrichtet, wenn sie dich so sieht? Eine Trinkerin zur Mutter zu haben?«
»Du hast kein Recht dazu«, zischte Vera.
Der Boden knarrte vom Geräusch von Schritten.
Dann ergriff eine dritte Stimme leise und sanft das Wort. »Beruhigen wir uns doch alle.« Es klang wie George, aber was sollte er hier tun, mitten in der Nacht?
Lorraine sagte etwas, das Reggie nicht verstand. Dann: »Meine Entscheidung steht fest. Ich will, dass du gehst. Jetzt.«
Darauf folgte weiteres Flüstern, dann Schritte.
Bald war es ruhig, aber Reggie blieb, wo sie war, ihr echtes Ohr gegen die Tür gepresst, bis sie einschlief.
17 17. Oktober 2010 – Brighton Falls, Connecticut
REGGIE STÜRMTE nach ihrer Konfrontation im Garten mit Martha zurück ins Haus.
»Wem hast du von Mom erzählt?«, blaffte Reggie ihre Tante an, während sie die Plastiktüten mit den Lebensmitteln auf der Küchentheke absetzte. Eine von ihnen fiel um, und eine Plastikwanne mit nach Zitrone duftenden Desinfektionstüchern rollte heraus.
»Niemandem.« Lorraine wandte sich von der Spüle um, wo sie die Kaffeekanne ausgespült hatte.
»Du hast mich angerufen. Und Tara. Wen noch?«
»Niemanden.« Lorraine straffte sich, stützte sich an der Theke ab.
»Niemand anderes?«
»Ich mag deinen Ton nicht, Regina.« Sie griff nach dem Küchentuch und tupfte ihre seifigen Hände ab.
»Martha Paquette war gerade hier. Sie hatte ein Foto von Mom, das von einem dieser gottverdammten freiwilligen Feuerwehrmänner aufgenommen worden ist.«
»Ich werde den Chief anrufen«, sagte Lorraine. »Das muss gegen ihren Verhaltenskodex verstoßen. Sicher wird er verwarnt.«
»Das Bild ist wirklich das Geringste unserer Probleme. Martha weiß, dass Mom in einem Obdachlosenasyl in Worcester gewesen ist. Und sie weiß von dem Krebs.«
Lorraines Mund klappte herunter, was sie aussehen ließ, wie eine ihrer vielgeliebten Forellen.
»Wie?«
»Jemand hat es ihr gesagt, schätze ich.« Sie starrte
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