DAS 5. OPFER
Schatten ihres und seines jüngeren Selbst hinter ihnen sehen, selbstvergessene Geister, die zusahen, wie die Zeit durch Taras Sanduhr rann. Du hast noch eine Minute zu leben …
Sie war dreizehn gewesen, als sie das letzte Mal mit Charlie hier oben gesessen hatte. Es fühlte sich an, wie das Leben einer anderen Person – eines Mädchens, über das sie einmal ein Buch gelesen hatte. Ein Mädchen, das in einen Jungen verliebt gewesen war, bei dem sie nie eine Chance haben würde. Sie hatten, bald nachdem Reggies Mutter entführt worden war, aufgehört miteinander zu sprechen, nach allem, was in jener letzten Nacht passiert war. Selbst wenn sie hätten reden wollen, es war ihnen verboten worden.
Lorraine erklärte sich damit einverstanden, Reggie in jenem Herbst zur Brooker School für Mädchen zu schicken, und hatte den größten Teil der Familienersparnisse benutzt, damit sie vier Jahre als externe Schülerin dort bleiben konnte. Doch die Schule war ganze drei Städte weiter, und die meisten Kids dort kamen aus Orten, die weit genug weg waren, sodass sie fast nichts über Neptun oder Reggies Mutter wussten. Es war nichts gegen die Qual, die es ihr bereitet hätte, zur Brighton Falls Highschool zu gehen.
Irgendwie hatte es sich nie richtig angefühlt, allein zum Baumhaus heraufzukommen, also war es verlassen geblieben.
Sie ging zu den Schlafsäcken hinüber, die von Mäusen und Eichhörnchen zerkaut worden waren, und gab ihnen einen Tritt, um sicherzugehen, dass dort gerade keine Nagetierfamilie hauste. Ihr Fuß traf auf etwas Hartes. Sie beugte sich hinab, zog vorsichtig den zerschlissenen Stoff beiseite und enthüllte Charlies ausgeleierte Akustikgitarre. »Sie ist immer noch hier!«, rief sie aus. »Du bist nie zurückgekommen, um sie zu holen?«
Charlie schüttelte den Kopf. »Sie war der reinste Dreck im Vergleich zu denen, die ich zu Hause hatte. Ich schätze, ich habe sie irgendwie einfach vergessen.« Er beugte sich vor, zog die Gitarre aus dem verhedderten Nest aus Fusseln. Er fuhr mit seiner Hand über den Klangkörper und den Hals hinauf, mit weit aufgerissenen Augen. »Verdammt«, war alles, was er sagte.
»Spielst du noch?«, fragte Reggie.
»Nee. Seit langer Zeit nicht mehr.« Er hielt die Gitarre an seinen dicken Bauch und strich darüber, dann bewegten sich seine Finger in die richtige Griffposition und er spielte ein paar verstimmte Akkorde. Er schüttelte den Kopf, als könnte er es immer noch nicht glauben, und legte das Instrument weg, seinen Blick immer noch darauf gerichtet. Seine Augen waren verschleiert und fremd, was Reggie ein wenig an die Art erinnerte, wie er früher Tara angesehen hatte.
»Also«, sagte Reggie. »Erzähl mir was von dir. Was machst du so heutzutage?«
»Ich bin im Immobiliengeschäft. Ich bin da irgendwie zufällig reingerutscht. Ich habe im College Meeresbiologie studiert und dafür eine Zeit lang in Maine Recherchen gemacht, aber ich bekam Heimweh und kam zurück nach Brighton Falls. Ich verkaufte Autos in Onkel Bos Verkaufsvertretung, aber für ihn zu arbeiten, war irgendwie blöd. Ich bekam meine Maklerlizenz und stellte fest, dass ich wirklich ein Händchen für den Verkauf von Häusern habe. Ich leite jetzt meine eigene Agentur.« Er tastete in seiner Jacke nach einer Visitenkarte.
Berr Immobilien, Charles Berr, MAKLER CRB, BRI
»Hast du Familie?«, fragte Reggie.
Charlie schien sich ein wenig zu winden. »Bin geschieden.«
»Tut mir leid«, sagte Reggie.
»Braucht es nicht«, sagte er zu ihr. »Wir haben gar nicht zueinander gepasst.«
»Kinder?«, fragte Reggie.
»Ich habe einen Sohn, Jeremy. Er ist sechs. Ich sehe ihn jedes zweite Wochenende.« Er ging auf die gegenüberliegende Seite, beugte sich vor und hob einen alten, rostigen Hammer auf.
»Wir hatten so große Pläne für diesen Ort«, sagte er und betrachtete den Hammer.
Reggie nickte nur.
Er legte den Hammer wieder weg. »Also, ich habe gehört, dass du so eine Art Spitzenarchitektin bist«, sagte er.
Sie nickte.
»Das ist großartig, Reggie. Und wie ist es mit dir? Verheiratet? Familie?«
Jetzt war es an ihr, sich zu winden. Doch sie gebot sich selbst Einhalt und stellte sich stattdessen so aufrecht und gerade hin, wie sie konnte. »Nein«, sagte sie. »Ich schätze, man könnte sagen, ich bin mit meiner Arbeit verheiratet. Ich bin aber eine ganze Weile mit jemandem zusammen gewesen.« Sie lächelte, als sie es sagte, obwohl ihr Magen sich verkrampfte. Len hatte gestern Abend wieder
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