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Das 6. Buch des Blutes - 6

Das 6. Buch des Blutes - 6

Titel: Das 6. Buch des Blutes - 6 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clive Barker
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hatte, ungeachtet des Geheuls der Liberalen, in der Tat seine Vorzüge. Es war schnell und endgültig. Wenn es sein kurzes, knallendes Sagen gehabt hatte, dann bestand kein Anlaß mehr zu weiteren Diskussionen; keine Gefahr, daß nach zehn Jahren plötzlich ein gewinnsüchtiger Indianer daherkam, der eine Ausgabe von Marx in der Gosse gefunden hatte und nun das Land seines Stammes zurückforderte – Öl, Mineralien und alles. Wenn sie fort waren, waren sie für immer fort.
    Beim Gedanken daran, diese Wilden mit den scharlachroten Gesichtern umzulegen, juckte Lockes Zeigefinger; juckte spürbar.
    Stumpf hatte seine Wiederholung beendet. Sie hatte keine Reaktion ausgelöst. Jetzt stöhnte er und wandte sich an Locke.
    »Mir wird gleich übel«, sagte er. Sein Gesicht war kalkweiß; verglichen mit dem Glanz der Haut wirkten seine winzigen Zähne schmutzig.
    »Tu dir keinen Zwang an«, antwortete Locke.
    » Bitte. Ich muß mich hinlegen. Ich will nicht, daß sie mich so sehen.«
    Locke schüttelte den Kopf. »Du bewegst dich erst von der Stelle, wenn sie gehorcht haben. Wenn wir kein Glück bei ihnen haben, dann wirst du etwas sehen, wovon dir richtig übel wird.«
    Locke spielte beim Sprechen mit dem Gewehrkolben und strich mit einem abgebrochenen Daumennagel über die Kerben darin. Es waren etwa ein Dutzend; jede das Grab eines Menschen. Der Dschungel verbarg Mord so mühelos. Er schien, auf seine geheimnisvolle Weise, das Verbrechen beinahe herauszufordern.
    Stumpf wandte sich von Locke ab und betrachtete die stumme Versammlung. Es waren so viele Indianer, dachte er, und er hatte zwar eine Pistole dabei, war aber ein schlechter Schütze. Angenommen, sie griffen Locke, Cherrick und ihn selbst an? Er würde es nicht überleben. Doch wenn er die Indianer ansah, konnte er keinerlei Aggression entdecken.
    Früher waren sie Krieger gewesen, und heute? Wie geprügelte Kinder, mürrisch und bewußt dumm. Bei einigen der jüngeren Frauen fand man noch Spuren von Schönheit; ihre Haut war, obschon schmutzig, makellos glatt, die Augen schwarz. Wäre er gesünder gewesen, hätte ihre Nacktheit ihn vielleicht erregt, und er wäre versucht gewesen, die glänzenden Körper mit den Händen anzufassen. Aber so erboste ihn ihr vorgeschütztes Unverständnis nur. Sie schienen, in ihrem Schweigen, eine andere Rasse zu sein, so geheimnisvoll und unergründlich wie Maultiere oder Vögel. Hatte ihm nicht jemand in Uxituba erzählt, daß viele dieser Menschen ihren Kindern nicht einmal richtige Namen gaben? Daß jedes wie ein Glied des Stammes war, anonym und daher nicht festzulegen? Das konnte er jetzt glauben, wenn er den gleichen dunklen Blick eines jeden Augenpaares sah, konnte glauben, daß sie sich hier nicht drei Dutzend Individuen gegenübersahen, sondern einem fließenden System von fleischgewordenem Haß. Er zitterte, wenn er nur daran dachte.
    Jetzt bewegte sich zum ersten Mal seit seiner Ankunft jemand aus der Versammlung. Ein Greis, mindestens dreißig Jahre älter als der Großteil des Stammes. Er war, wie die anderen, so gut wie nackt. Das schlaffe Fleisch von Gliedmaßen und Brust erinnerte an gegerbte Haut. Sein Schritt war vollkommen sicher, obwohl die blassen Augen darauf hindeuteten, daß er blind war.
    Als er vor den Eindringlingen stand, machte er den Mund auf – keine Zähne in dem verfaulten Zahnfleisch – und sprach.
    Aber aus dem rauhen Hals kam eine Sprache, die nicht aus Wörtern bestand, sondern aus Geräuschen, ein Potpourri von Dschungellauten. Die Flut hatte keine erkennbare Struktur, es handelte sich lediglich um eine – auf ihre Weise eindrucksvolle – Darbietung von Nachahmungen. Der Mann konnte wie ein Jaguar knurren, wie ein Papagei kreischen, er konnte mit dem Hals das Plätschern von Regen auf Orchideen nachmachen, das Heulen von Affen.
    Die Laute erweckten einen Brechreiz in Stumpf. Der Dschungel hatte ihn krank gemacht, ausgetrocknet und ausgelaugt. Und jetzt kotzte ihm dieser spindeldürre Mann mit den blinden Augen den ganzen stinkenden Ort entgegen. Stumpf hatte aufgrund der drückenden Hitze in dem Kreis der Hütten pochende Kopfschmerzen, und während er dastand und dem Kreischen des Weisen lauschte, war er ganz sicher, daß der alte Mann den Rhythmus seines Geschwätzes genau dem Pochen in seinen Schläfen und Handgelenken anglich.
    »Was sagt er?« wollte Locke wissen.
    »Wie hört es sich denn an?« antwortete Stumpf, den Lockes idiotische Frage erboste. »Das ist nur Lärm.«
    »Der

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