Das 6. Buch des Blutes - 6
Schrei, der gar nicht nach der Stimme des alten Mannes klang.
Als er ertönte, warf sich Stumpf auf die Knie, beide Arme an den Bauch gedrückt, seine Eingeweide in Aufruhr. Da er das Gesicht am Boden hatte, sah er nicht, wie die winzige Gestalt aus der Hütte kam und ins Sonnenlicht taumelte. Und als er aufsah und das Kind mit dem scharlachroten Gesicht erblickte, das sich den Bauch hielt, hoffte er, daß seine Augen ihn trogen.
Aber das taten sie nicht. Blut quoll zwischen den Fingern des Kindes hervor, der Tod hatte sein Gesicht gezeichnet. Es fiel vornüber auf die festgetretene Erde vor der Schwelle der Hütte, zuckte und starb.
Irgendwo zwischen den Hütten fing eine Frau leise zu schluchzen an. Einen Augenblick kreiste die Welt auf einem Stecknadelkopf, im hinfälligsten Gleichgewicht zwischen der Stille und dem Schrei, der gleich losbrechen mußte, zwischen eingehaltenem Waffenstillstand und bevorstehenden Grausamkeiten.
»Du Vollidiot«, murmelte Locke Cherrick zu. Seine Stimme zitterte, als er das Schimpfwort aussprach. »Zurück«, sagte er.
»Steh auf, Stumpf. Wir warten nicht. Steh auf und komm, oder du bleibst hier.«
Stumpf sah immer noch den Leichnam des Kindes an. Er unterdrückte ein Stöhnen und stand auf.
»Helft mir«, sagte er. Locke stützte ihn.
»Gib uns Deckung«, sagte er zu Cherrick. Der Mann nickte totenblaß.
Einige Stammesmitglieder sahen den fliehenden Europäern nach; ihre Gesichter waren trotz der Tragödie so unbeteiligt wie immer. Nur die schluchzende Frau, wahrscheinlich die Mutter des toten Kindes, ging zwischen den stummen Gestalten einher und verlieh ihrem Kummer Ausdruck.
Cherricks Gewehr zitterte, während er den Brückenkopf einnahm. Er hatte seine Kalkulationen gemacht; sollte es zu einer frontalen Konfrontation kommen, hatten sie gegen die Indianer kaum Überlebenschancen. Doch selbst jetzt, als der Feind die Flucht antrat, bewegten sich die Indianer nicht. Es gab nur die anklagenden Indizien: der tote Junge, das rauchende Gewehr. Cherrick riskierte einen Blick über die Schulter. Locke und Stumpf hatten sich dem Jeep bereits bis auf zwanzig Meter genähert, und immer noch trafen die Wilden keinerlei Anstalten, sich zu bewegen.
Als er sich wieder dem Dorf zuwandte, schien es, als würde der ganze Stamm gemeinsam einen einzigen gewaltigen Atem ausstoßen, und als Cherrick diesen Laut hörte, da spürte er, wie sich der Tod wie eine Fischgräte in seinem Hals einklemmte, zu tief, um sie mit den Fingern herauszuholen, zu groß, sie aus-zuscheißen. Sie war einfach da, in seiner Anatomie verankert, Argumenten und Flehen gegenüber nicht aufgeschlossen. Eine Bewegung an der Tür der Hütte lenkte ihn von ihrer Anwesenheit ab.
Er war durchaus bereit, denselben Fehler noch einmal zu machen, und hielt das Gewehr fester. Der alte Mann war wieder unter der Tür erschienen. Er trat über den Leichnam des Jungen, der noch dort lag, wo er gestürzt war. Cherrick sah erneut hinter sich. Sie waren doch sicher inzwischen beim Jeep? Aber Stumpf war gestolpert, Locke zerrte ihn gerade eben auf die Beine. Cherrick, der den alten Mann auf sich zukommen sah, wich einen vorsichtigen Schritt zurück, dann noch einen. Der alte Mann war furchtlos. Er kam rasch durch das Dorf und stand so dicht vor Cherrick, daß der Lauf des Gewehrs sich in seinen schrumpeligen Bauch bohrte, und dabei war er so verwundbar wie eh und je.
Er hatte Blut an den Händen, es war so frisch, daß es an den Armen des Mannes hinabrann, als er die Handflächen hob, damit Cherrick sie sehen konnte. Hatte er den Jungen berührt, fragte sich Cherrick, als er aus der Hütte gekommen war?
Wenn ja, war es ein erstaunliches Taschenspielerkunststück gewesen, denn Cherrick hatte nichts bemerkt. Trick oder kein Trick, die Bedeutung der Vorstellung war eindeutig: Er wurde des Mordes angeklagt. Aber Cherrick wollte sich nicht einschüchtern lassen. Er sah den alten Mann an und begegnete Trotz mit Trotz.
Aber der alte Dreckskerl unternahm überhaupt nichts, er zeigte nur die blutigen Handflächen, und seine Augen waren voller Tränen. Cherrick konnte wieder spüren, wie sein Zorn wuchs. Er bohrte dem alten Mann zwei Finger ins Fleisch.
»Mir machst du keine Angst«, sagte er, »kapiert? Ich bin kein Narr.«
Während er noch sprach, schien es ihm, als veränderten sich die Züge des alten Mannes. Es war natürlich ein Trick der Sonne oder des Schattens eines Vogels, aber unter dem Verfall des Alters sah Cherrick eine
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