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Das 6. Buch des Blutes - 6

Das 6. Buch des Blutes - 6

Titel: Das 6. Buch des Blutes - 6 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clive Barker
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Pisser verflucht uns«, sagte Cherrick.
    Stumpf drehte sich zu dem dritten Mann um.
    Cherricks Augen quollen aus den Höhlen. »Es ist ein Fluch«, sagte er zu Stumpf.
    Locke lachte. Cherricks Befürchtungen ließen ihn kalt. Er stieß Stumpf beiseite und stellte sich selbst vor den alten Mann, dessen Sprechgesang mittlerweile tiefer klang, beinahe wie ein Singsang.
    Er besingt die Dämmerung, dachte Stumpf, das kurze Zwischenreich zwischen dem sengenden Tag und der erstickenden Nacht. Ja, das ist es. Er konnte in dem Lied das Schnurren und Gurren eines schläfrigen Königreichs erkennen. Es war so überzeugend, daß er sich auf der Stelle hinlegen und schlafen wollte.
    Locke brach den Bann. »Was sagst du?« Er spie dem Stammesangehörigen ins runzlige Gesicht. »Sprich vernünftig!«
    Aber die Geräusche der Nacht wurden einfach weiter geflüstert, ein nicht enden wollender Strom.
    »Dies ist unser Dorf«, mischte sich jetzt eine andere Stimme ein. Der Mann sprach, als würde er die Worte des Ältesten übersetzen. Locke drehte sich herum, um den Sprecher herauszufinden. Es war ein magerer Jugendlicher, dessen Haut einmal golden gewesen sein mochte. »Unser Dorf. Unser Land.«
    »Du sprichst Englisch«, sagte Locke.
    »Etwas«, antwortete der Jugendliche.
    »Warum hast du mir vorhin nicht geantwortet?« wollte Locke wissen, und das Desinteresse im Gesicht des Jugendlichen peitschte seine Wut auf.
    »Es stand mir nicht an zu sprechen«, antwortete der Mann.
    »Er ist der Älteste.«
    »Du meinst, der Häuptling?«
    »Der Häuptling ist tot. Seine ganze Familie ist tot. Er hier ist der Klügste von uns…«
    »Dann sag ihm…«
    »Man muß ihm nichts sagen«, unterbrach ihn der junge Mann. »Er versteht euch.«
    »Er spricht auch Englisch?«
    »Nein«, antwortete der andere, »aber er versteht euch. Ihr seid… durchsichtig.«
    Locke ahnte dunkel, daß der Junge damit eine Beleidigung ausgesprochen hatte, aber er war nicht sicher. Er sah Stumpf fragend an.
    Der Deutsche schüttelte den Kopf.
    Locke wandte seine Aufmerksamkeit wieder dem Jungen zu.
    »Sag es ihm trotzdem«, verlangte er. »Sag es allen hier. Dies ist unser Land. Wir haben es gekauft.«
    »Der Stamm hat immer hier gelebt«, lautete die Antwort.
    »Aber jetzt nicht mehr«, sagte Cherrick.
    »Wir haben Dokumente…« sagte Stumpf versöhnlich, weil er immer noch hoffte, die Konfrontation würde sich friedlich beilegen lassen, ».. .von der Regierung.«
    »Wir waren vor der Regierung hier«, entgegnete der Stammesangehörige.
    Der alte Mann hatte damit aufgehört, den Wald nachzuahmen. Vielleicht, überlegte Stumpf, kam er zum Beginn eines weiteren Tages und hat deshalb aufgehört. Jetzt wandte er sich ab und achtete gar nicht mehr auf die Anwesenheit dieser unerwünschten Gäste.
    »Ruf ihn zurück«, verlangte Locke und drohte mit dem Gewehr in Richtung des Jugendlichen. Die Geste war eindeutig.
    »Er soll den anderen sagen, sie müssen gehen.«
    Aber der junge Mann schien sich von der Drohung durch Lockes Gewehr nicht beeindrucken zu lassen und wollte, womit man ihn auch bedrängte, seinem Ältesten offensichtlich keine Befehle erteilen. Er sah dem alten Mann einfach nach, wie er zu der Hütte zurückkehrte, aus der er gekommen war.
    Auch andere wandten sich jetzt überall im Dorf ab. Der Rückzug des alten Mannes war offenbar das Signal gewesen, daß die Vorstellung vorbei war.
    »Nein!« sagte Cherrick. »Ihr hört nicht zu!« Sein Gesicht war einen Ton dunkler geworden, die Stimme eine Oktave gestiegen. Er trat mit erhobenem Gewehr nach vorne.
    »Verdammter Abschaum!«
    Das Publikum lief ihm trotz seiner Hysterie in immer größerer Anzahl davon. Der alte Mann hatte die Tür seiner Hütte erreicht, bückte sich und verschwand darin. Die wenigen Mitglieder des Stammes, die noch Interesse an den Vorgängen zeigten, betrachteten die Europäer mit einer Spur Mitleid angesichts ihres Wahnsinns. Das machte Cherrick noch wütender.
    »Hört mir zu!« kreischte er, und der Schweiß spritzte ihm von der Stirn, als er den Kopf ruckartig von einer davonlaufenden Gestalt zur nächsten drehte. »Hört zu, ihr Drecks-kerle.«
    »Ruhig…« sagte Stumpf.
    Dieser Einwurf war für Cherrick der Auslöser. Er riß ohne Warnung das Gewehr an die Schulter, zielte auf die offene Tür der Hütte, in der der alte Mann verschwunden war, und feuerte.
    Aus den Kronen umhegender Bäume stoben Vögel in die Höhe, Hunde liefen davon. Aus der Hütte hörte man einen kurzen

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