Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das 6. Buch des Blutes - 6

Das 6. Buch des Blutes - 6

Titel: Das 6. Buch des Blutes - 6 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clive Barker
Vom Netzwerk:
Spur jenes Kindes, das jetzt tot vor der Tür der Hütte lag. Der kleine Mund schien sogar zu lächeln. Dann verblaßte die Illusion wieder so unmerklich, wie sie gekommen war.
    Cherrick nahm die Hand wieder von der Brust des alten Mannes und kniff die Augen zusammen, um weitere Trugbilder zu vermeiden. Danach setzte er den Rückzug fort. Er war jedoch erst drei Schritte weit gekommen, als rechts von ihm etwas aus der Deckung brach. Er wirbelte herum, riß das Gewehr hoch und feuerte.
    Ein scheckiges Schwein, eines von mehreren, die um die Hütten herumstreiften, wurde im Laufen von der Kugel aufgehalten, die es im Hals traf. Es schien über die eigenen Füße zu stolpern und brach Kopf voraus im Staub zusammen.
    Cherrick richtete das Gewehr wieder auf den alten Mann.
    Aber der hatte sich nicht bewegt, nur den Mund aufgemacht.
    Sein Gaumen ahmte die Laute des sterbenden Schweins nach.
    Ein ersticktes Quietschen, erbarmenswert und lächerlich, das Cherrick den ganzen Pfad entlang bis zum Jeep verfolgte.
    Locke hatte schon den Motor angelassen.
    »Steig ein«, sagte er.
    Cherrick brauchte keine Aufforderung, er warf sich auf den Vordersitz. Das Innere des Fahrzeugs war erstickend heiß und stank nach Stumpfs Körperfunktionen, aber es war der sicherste Ort der gesamten letzten Stunde.
    »Es war ein Schwein«, sagte er. »Ich habe ein Schwein erschossen.«
    »Hab’s gesehen«, sagte Locke.
    »Der alte Dreckskerl…« Er verstummte. Er betrachtete die beiden Finger, mit denen er den Ältesten geschubst hatte. »Ich habe ihn angefaßt«, sagte er, verwirrt von dem, was er sah. Die Fingerspitzen waren blutig, obwohl die Haut, die er mit den Fingern berührt hatte, sauber gewesen war.
    Locke beachtete Cherricks Verwirrung nicht, sondern stieß zum Wenden mit dem Jeep zurück und fuhr von dem Dorf weg, einen Pfad entlang, der in der Stunde, seitdem sie auf ihm hergekommen waren, von der Fauna überwuchert worden zu sein schien. Sie konnten keinerlei Anzeichen für eine Verfolgung erkennen.
    Der winzige Handelsposten südlich von Averio war kaum zivilisiert, aber er genügte. Hier gab es weiße Gesichter und klares Wasser.
    Stumpf, dessen Zustand sich während der Rückfahrt verschlimmert hatte, wurde von Dancy behandelt, einem Engländer, der das Benehmen eines enteigneten Earl und ein Gesicht wie ein geklopftes Steak hatte. Er behauptete, früher, in nüchternen Zeiten, Arzt gewesen zu sein, und obwohl er keinerlei Beweise für seine Fähigkeiten vorlegen konnte, sprach ihm niemand das Recht ab, sich mit Stumpf zu befassen. Der Deutsche war im Delirium und ab und zu gewalttätig, aber Dancy, an dessen zierlichen Händen Goldringe prangten, schien besonderen Gefallen an der Pflege seines um sich schlagenden Patienten zu finden.
    Während Stumpf unter seinem Moskitonetz tobte, saßen Locke und Cherrick in der von Lampen spärlich erhellten Düsternis und tranken, dann schilderten sie ihre Begegnung mit dem Stamm. Nachdem der Bericht beendet war, kam Tetelman, der Besitzer der Vorräte des Handelspostens, zum Zug. Er kannte die Indianer gut.
    »Ich bin schon jahrelang hier«, sagte er, während er den räudigen Affen, der auf seinem Schoß herumturnte, mit Nüssen fütterte. »Ich weiß, wie diese Menschen denken. Sie handeln vielleicht, als wären sie dumm, sogar Feiglinge. Glaubt mir, sie sind keins von beidem.«
    Cherrick brummte. Der quirlige Affe sah ihn mit leeren Augen an. »Sie haben keinen Finger gegen uns gerührt«, sagte Cherrick, »obwohl sie uns zahlenmäßig zehn zu eins überlegen waren. Wenn das nicht Feigheit ist, was dann?«
    Tetelman lehnte sich auf dem quietschenden Stuhl zurück und schubste das Tier vom Schoß. Sein Gesicht war verblichen und verbraucht. Nur die Lippen, die ständig am Glas befeuchtet wurden, hatten noch etwas Farbe. Er sieht aus, dachte Locke, wie eine alte Hure.
    »Vor dreißig Jahren«, sagte Tetelman, »war dieses ganze Gebiet ihre Heimat. Niemand wollte es. Sie gingen hin, wo sie wollten, sie machten, was sie wollten. Für die Weißen war der Dschungel dreckig und voller Krankheiten, und wir wollten kein Stück davon. Und natürlich hatten wir in gewisser Weise recht. Er ist dreckig und voller Krankheiten, aber er hat auch Ressourcen, die wir jetzt unbedingt haben wollen. Minerale, vielleicht Öl. Macht.«
    »Wir haben für dieses Land bezahlt«, sagte Locke, dessen Finger nervös am gesprungenen Rand des Glases spielten. »Es ist alles, was wir haben.«
    Tetelman verzog höhnisch

Weitere Kostenlose Bücher