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Das 6. Buch des Blutes - 6

Das 6. Buch des Blutes - 6

Titel: Das 6. Buch des Blutes - 6 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clive Barker
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würden. Ballard war damit beauftragt worden, den Russen persönlich zu treffen, weil man durch ihn herauszufinden hoffte, ob sich der Russe aufrichtig von seiner Ideologie losgesagt hatte oder ob er nur so tat. Ballard wußte, die Antwort würde nicht über Mironenkos Lippen kommen, sondern sich in einer Nuance seines Verhaltens äußern, die nur instinktiv begriffen werden konnte.
    Es gab eine Zeit, da hätte Ballard dieses Rätsel faszinierend gefunden, wäre jeder seiner Gedanken, wenn er wach war, um die bevorstehende Enthüllung gekreist. Aber diese Hingabe hatte zu einem Mann gehört, der überzeugt war, daß sein Tun einen feststellbaren Einfluß auf die Welt hatte. Jetzt war er klüger. Die Agenten im Westen und im Osten gingen jahrein, jahraus ihrer geheimen Tätigkeit nach. Sie schmiedeten Ränke, sie planten Verschwörungen, gelegentlich (wenn auch selten)
    vergossen sie Blut. Es gab Debakel und Abmachungen und kleinere taktische Siege. Aber letztendlich blieb alles so ziemlich beim alten.
    Zum Beispiel diese Stadt. Ballard war im April 1969 zum ersten Mal in Berlin gewesen. Damals war er neunundzwanzig, hatte gerade eine jahrelange intensive Ausbildung hinter sich und war bereit, ein wenig zu leben. Aber er hatte sich hier nicht wohl gefühlt. Er fand die Stadt reizlos und häufig öd. Erst Odell, sein Kollege in den ersten zwei Jahren, hatte ihm zeigen müssen, daß die Stadt seine Zuneigung verdiente, und nachdem Ballard das herausgefunden hatte, war er für sein restliches Leben verloren. Heute fühlte er sich in der geteilten Stadt mehr zu Hause als in London. Das unterschwellige Unbehagen, der gescheiterte Idealismus und – wahrscheinlich am wichtigsten – die schreckliche Isolation entsprachen seinen eigenen Gefühlen. Er und die Stadt, beide hielten sie eine Existenz in einer Wüste toter Ambitionen aufrecht.
    Er fand Mironenko in der Gemäldegalerie, und ja, die Fotos hatten gelogen. Der Russe sah älter aus als sechsundvierzig und kränker, als es auf jenen gestohlenen Bildern den Anschein gehabt hatte. Keiner der Männer ließ sich anmerken, daß er den anderen erkannt hatte. Sie gingen eine volle halbe Stunde durch die Galerie, wobei Mironenko lebhaftes und offenbar aufrichtiges Interesse für die ausgestellten Bilder zeigte. Erst als beide zu ihrer Zufriedenheit davon überzeugt waren, daß sie nicht beobachtet wurden, verließ der Russe das Gebäude und führte Ballard durch den feinen Vorort Dahlem in ein Haus, über dessen Sicherheit sich beide Seiten geeinigt hatten. Dort setzten sie sich in eine kleine und unbeheizte Küche und unterhielten sich miteinander.
    Mironenko beherrschte das Englische nur unzureichend, so schien es jedenfalls, aber Ballard hatte den Eindruck, daß sein Ringen um die richtigen Ausdrücke ebenso taktisch wie gram-matikalisch bedingt war. Er hätte vielleicht dieselbe Fassade präsentiert, wäre er in der Situation des Russen gewesen; es konnte nie schaden, wenn man weniger kompetent erschien, als man tatsächlich war. Doch trotz seiner Schwierigkeiten, sich auszudrücken, waren Mironenkos Beteuerungen unmißverständlich.
    »Ich bin kein Kommunist mehr«, verkündete er offen. »Ich bin kein Parteimitglied mehr, nicht hier « – und dabei drückte er sich die Faust auf die Brust –, »seit vielen Jahren schon.«
    Er holte ein weißes Taschentuch aus der Manteltasche, zog einen Handschuh aus und schälte ein Fläschchen mit Tabletten aus dem Taschentuch.
    »Verzeihen Sie«, sagte er, während er ein paar Tabletten aus dem Fläschchen schüttelte. »Ich habe Schmerzen. Im Kopf, in den Händen.«
    Ballard wartete, bis er die Medizin geschluckt hatte, bevor er ihn fragte: »Warum kamen Ihnen Zweifel?«
    Der Russe steckte Fläschchen und Taschentuch wieder ein.
    Sein breites Gesicht war ausdruckslos. »Wie verliert ein Mann seinen… seinen Glauben?« sagte er. »Liegt es daran, daß ich zuviel gesehen habe – oder möglicherweise zuwenig?« Er sah Ballard ins Gesicht, um zu überprüfen, ob seine stockenden Worte einen Sinn ergeben hatten. Da er kein Verständnis darin entdeckte, versuchte er es noch einmal. »Ich finde, der Mann, der nicht glaubt, er ist verloren, ist verloren.«
    Das Paradoxon war elegant ausgedrückt. Ballards Verdacht, was Mironenkos tatsächliche Englischkenntnisse anbetraf, war bestätigt.
    »Sind Sie jetzt verloren?« wollte Ballard wissen.
    Mironenko antwortete nicht. Er zog den anderen Handschuh aus und betrachtete seine Hände. Die

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