Das 6. Buch des Blutes - 6
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Der Stamm verweste bereits. Sie lagen, wie sie hineingeworfen worden waren, ein Wirrwarr von Brüsten und Gesäßbacken und Gesichtern und Gliedmaßen, die Leichen hier und da schon purpurn und schwarz verfärbt. Fliegen schlugen in der Luft über ihnen Purzelbäume.
»Eine Lehre«, bemerkte Dancy.
Locke konnte den Blick nicht abwenden, während Bjørnstrøm sich zu Dancy auf der anderen Seite der Grube gesellte.
»Alle?« fragte Locke.
Der Norweger nickte. »Auf einen Streich«, sagte er und betonte jedes Wort mit nervtötender Präzision.
»Decken«, sagte Tetelman und nannte damit die Mordwaffe.
»Aber so schnell…« murmelte Locke.
»Sehr wirksam«, sagte Dancy. »Und schwer zu beweisen.
Sollte jemals jemand danach fragen.«
»Krankheiten sind natürlich«, stellte Bjørnstrøm fest. »Oder?
Wie die Bäume.«
Locke schüttelte langsam den Kopf, seine Augen brannten.
»Ich habe nur Gutes von Ihnen gehört«, sagte Bjørnstrøm zu ihm. »Vielleicht können wir zusammenarbeiten.«
Locke machte sich nicht die Mühe zu antworten. Die anderen der Norwegergruppe hatten die Gewehre weggelegt und machten sich wieder an die Arbeit, sie ergriffen die wenigen Leichen, die noch von dem kläglichen Häuflein neben der Grube zu ihren Stammesmitgliedern geworfen werden mußten.
Locke konnte ein Kind in dem Durcheinander erkennen, und einen alten Mann, den das Beerdigungsteam gerade aufhob.
Als sie ihn über den Rand der Öffnung schwangen, sah der Leichnam aus, als hätte er keine Gelenke. Er rollte den schmalen Hang hinab und blieb mit dem Gesicht nach oben liegen, die Arme rechts und links in einer Geste der Unterwerfung oder Beschwörung über den Kopf erhoben. Es war natürlich der Älteste, dem Cherrick gegenübergestanden hatte. Seine Handflächen waren immer noch rot. Er hatte ein sauberes Einschußloch an der Schläfe. Offenbar waren Krankheit und Hoffnungslosigkeit doch nicht ganz ausreichend gewesen.
Locke sah zu, wie der nächste Leichnam in die Grube geworfen wurde, danach ein dritter.
Bjørnstrøm, der auf der anderen Seite der Grube hin und her schlenderte, zündete sich eine Zigarette an. Er sah Locke in die Augen. »Wie das Leben so spielt«, sagte er.
Hinter Locke ergriff Tetelman das Wort.
»Wir dachten nicht, daß Sie zurückkommen würden«, sagte er, möglicherweise, um sein Bündnis mit Bjørnstrøm zu entschuldigen.
»Stumpf ist tot«, sagte Locke.
»Nun, noch weniger zu teilen«, sagte Tetelman, kam zu ihm und legte ihm eine Hand auf die Schulter. Locke antwortete nicht. Er sah einfach auf die Leichen hinab, die jetzt mit Kalk überschüttet wurden, und nur allmählich nahm er die Wärme wahr, die von der Stelle, wo Tetelman ihn berührt hatte, an seinem Körper hinablief. Voller Ekel hatte der Mann die Hand weggenommen und betrachtete nun den wachsenden Blutfleck auf Lockes Hemd.
Die Fotos von Mironenko, die man Ballard in München gezeigt hatte, waren alles andere als hilfreich gewesen. Nur ein oder zwei zeigten den KGB-Agenten von vorne, die anderen waren fast alle verwackelt und körnig und verrieten ihre verstohlene Entstehung. Ballard kümmerte das nicht sehr. Er wußte aus langer und gelegentlich auch bitterer Erfahrung, daß sich das Auge nur zu gerne täuschen ließ. Aber es gab andere Fähigkeiten – Überbleibsel von Sinnen, die das moderne Leben überflüssig gemacht hatte –, die ins Spiel zu bringen er gelernt hatte und die es ihm ermöglichten, das geringste Anzeichen von Verrat aufzuspüren. Diese Begabungen wollte er einsetzen, wenn er sich mit Mironenko traf. Mit ihnen würde er dem Mann die Wahrheit entlocken.
Die Wahrheit? Darin lag selbstverständlich das Problem, denn war Aufrichtigkeit in diesem Zusammenhang nicht eine Variable? Sergej Sacharowitsch Mironenko war elf Jahre lang Abteilungsleiter des Direktorats S im KGB gewesen und hatte Zugang zu geheimsten Informationen über die Verteilung sowjetischer Illegaler im Westen gehabt. In den vergangenen Wochen jedoch hatte er seine Unzufriedenheit mit den derzeitigen Herren und seinen Wunsch überzulaufen dem britischen Geheimdienst mitgeteilt. Als Gegenleistung für die weitreichenden Maßnahmen, die seinetwegen getroffen werden mußten, hatte er eingewilligt, über einen Zeitraum von drei Monaten hinweg als Agent innerhalb des KGB zu fungieren, danach sollte er an den Busen der Demokratie gedrückt und an einem Ort versteckt werden, wo ihn seine rachsüchtigen Herren niemals finden
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