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Das 6. Buch des Blutes - 6

Das 6. Buch des Blutes - 6

Titel: Das 6. Buch des Blutes - 6 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clive Barker
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Ausfall machte. Als er sah, daß das Schloß bald nachgeben würde, gab er einen Schreckensschrei von sich. Locke achtete nicht darauf, sondern warf sich weiter gegen die Tür. Man hörte Holz bersten.
    Irgendwo in der Nähe vernahm Locke eine Frauenstimme, die auf Stumpfs Schreie antwortete. Einerlei, er würde den Deutschen in die Finger bekommen, bevor Hilfe eintreffen konnte, und dann würde er, bei Gott, den letzten Rest des Lächelns von den Lippen des Dreckskerls tilgen. Er warf sich mit neuem Eifer gegen die Tür; immer und immer wieder. Die Tür gab nach. Im antiseptischen Kokon seines Zimmers nahm Stumpf die ersten Böen unreiner Luft der Außenwelt wahr.
    Nicht mehr als eine leichte Brise, die in seine behelfsmäßige Zuflucht drang, aber sie trug den Abfall der Welt auf ihrem Rücken. Ruß und Pollen, Schuppen, die von hundert Kopfhäuten gekratzt worden waren, Staub und Sand und Haare; heller Staub vom Flügel eines Falters. So winzige Splitter, daß das menschliche Auge sie nur sehen konnte, wenn sie von grellem Sonnenlicht angestrahlt wurden; jedes ein winziger, kreisender Fleck und für die meisten Organismen vollkommen harmlos. Aber für Stumpf war diese Wolke tödlich. Sein Körper wurde innerhalb von Sekunden zu einem Schlachtfeld winziger, tropfender Wunden.
    Er kreischte und lief zur Tür, um sie wieder zuzuschlagen, womit er sich in einen Hagel winzigster Rasierklingen warf, von denen jede ihn aufschlitzte. Als er die Hände gegen die Tür preßte, um Locke am Eindringen zu hindern, platzten sie auf.
    Es war ohnedies zu spät, Locke auszusperren. Der Mann hatte die Tür weit aufgerissen und trat ein, und jede seiner Bewegungen erzeugte weitere Luftströmungen, die Stumpf zerschnitten. Er packte den Deutschen am Handgelenk. Die Haut öffnete sich unter seinem Griff wie unter einem Messer.
    Hinter ihm stieß eine Frau einen Entsetzensschrei aus. Als Locke klar wurde, daß Stumpf nicht mehr imstande war, sein Lächeln zu widerrufen, ließ er den Mann los. Stumpf, der an jeder entblößten Körperstelle mit Schnitten geschmückt war, zu denen ständig neue hinzukamen, taumelte blindlings rückwärts und fiel neben das Bett. Die tödliche Luft zerschnitt ihn noch im Sturz; mit jeder schmerzerfüllten Zuckung schuf er neue Strömungen und Wirbel, die ihn aufrissen.
    Locke wich mit aschfahlem Gesicht von dem Mann zurück und stolperte in den Flur hinaus. Eine Menge Schaulustige blockierten den Weg. Als er auf sie zuging, wichen sie jedoch auseinander, weil sie von seiner Körpergröße und dem wilden Gesichtsausdruck so eingeschüchtert waren, daß sich ihm keiner entgegenstellen wollte. Er ging den Weg durch das von Krankheitsgeruch erfüllte Labyrinth zurück, über den kleinen Innenhof und ins Hauptgebäude. Aus den Augenwinkeln sah er zwar, wie Edson Costa ihn verfolgte, blieb aber nicht stehen, um Erklärungen abzugeben.
    Im Wartezimmer, das trotz der späten Stunde mit Opfern der einen oder anderen Sorte überfüllt war, fiel sein gehetzter Blick auf einen kleinen Jungen, der auf dem Schoß seiner Mutter saß. Er war offenbar am Bauch verletzt. Das Hemd, das ihm zu groß war, war blutverschmiert, das Gesicht tränenfeucht. Die Mutter sah nicht auf, als Locke sich durch die Menge zwängte.
    Dafür aber das Kind. Es hob den Kopf, als wüßte es, daß Locke vorübergehen wollte, und lächelte strahlend.
    In Tetelmans Laden war niemand, den Locke kannte. Aus den angestellten Helfern, die fast ausnahmslos so betrunken waren, daß sie nicht mehr stehen konnten, brachte er auch durch Einschüchterungen nur heraus, daß ihre Herren am Vortag in den Dschungel gegangen waren. Locke suchte sich den nüchternsten aus und überzeugte ihn mit Drohungen davon, ihn als Übersetzer ins Dorf zu begleiten. Er hatte keine rechte Vorstellung, wie er mit dem Stamm Frieden schließen wollte. Er wußte nur, daß er sie von seiner Unschuld überzeugen mußte.
    Schließlich, so würde er flehen, hatte nicht er den tödlichen Schuß abgegeben. Sicher, es hatte Mißverständnisse gegeben, aber er hatte den Leuten in keinster Weise Schaden zugefügt.
    Wie konnten sie sich guten Gewissens gegen ihn verschwören und ihm etwas zuleide tun? Sollten sie eine Art Buße von ihm verlangen, war er sich nicht zu schade, ihre Bitte zu erfüllen.
    Vielleicht verschaffte ihm das ja sogar eine gewisse Befriedigung. Er hatte in jüngster Zeit soviel Leid gesehen. Er wollte sich davon reinigen. Alles, was sie verlangten, würde er,

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