Das 6. Buch des Blutes - 6
verstehen nicht«, sagte Cripps. »Sie fühlen sich als Märtyrer, und das kann ich Ihnen auch nicht ganz verdenken.«
»Und was geschieht jetzt? Soll ich vergessen, daß ich den Mann je kennengelernt habe?«
»Würde nicht schaden«, sagte Cripps. »Aus den Augen, aus dem Sinn.«
Cripps verließ sich offenbar nicht darauf, daß Ballard seinen eigenen Rat befolgen würde. In der folgenden Woche stellte Ballard ein paar diskrete Nachforschungen über den Fall Mironenko an, aber es war eindeutig, da der übliche Kreis seiner Kontaktpersonen gewarnt worden war, den Mund zu halten.
So kam es, daß Ballard die nächsten Nachrichten über den Fall mit der Morgenzeitung bekam, in einem Artikel über eine Leiche, die in der Nähe der U-Bahn-Haltestelle Kaiserdamm gefunden worden war. Als er ihn las, konnte er nicht wissen, in welchem Zusammenhang die Schilderung mit Mironenko stand, aber die Geschichte enthielt einige Einzelheiten, die sein Interesse weckten. Zunächst einmal hatte er den Verdacht, daß das in dem Artikel erwähnte Haus gelegentlich vom Geheimdienst benutzt worden war; weiterhin erwähnte der Artikel zwei unbekannte Männer, die beinahe dabei erwischt worden wären, wie sie die Leiche wegschaffen wollten, was zusätzlich darauf hindeutete, daß es sich nicht um ein Verbrechen aus Leidenschaft handelte.
Gegen Nachmittag suchte er Cripps in dessen Büro auf, weil er ein paar Erklärungen aus ihm herauskitzeln wollte, aber seine Sekretärin erklärte, Cripps sei nicht da und würde in nächster Zeit auch nicht zur Verfügung stehen; anfallende Probleme hätten ihn nach München geführt. Ballard hinterließ eine Nachricht, daß er mit ihm sprechen wolle, wenn er zurückkam.
Als er wieder in den kühlen Tag hinaustrat, wurde ihm klar, daß er einen Verehrer gefunden hatte, einen Mann mit schmalem Gesicht, dessen Haaransatz weit zurückgewichen war, nur eine alberne Locke war an der Hochwassermarke verblieben.
Ballard kannte ihn vom Sehen aus Cripps’ Stab, aber der Name fiel ihm nicht ein. Dieser wurde rasch nachgeliefert.
»Suckling«, sagte der Mann.
»Natürlich«, erwiderte Ballard. »Hallo.«
»Ich glaube, wir sollten miteinander reden, wenn Sie einen Augenblick Zeit haben«, sagte der Mann. Seine Stimme war so verkniffen wie seine Gesichtszüge. Ballard wollte seinen Klatsch nicht hören. Er wollte gerade ablehnen, als Suckling hinzufügte: »Ich nehme an, Sie haben gehört, was Cripps zugestoßen ist.«
Ballard schüttelte den Kopf. Suckling war entzückt, daß er dieses Juwel hatte, und er wiederholte: »Wir sollten miteinander reden.«
Sie gingen die Kantstraße entlang in Richtung Zoo. Auf der Straße wimmelte es von Passanten, die zum Mittagessen gingen, aber Ballard bemerkte sie kaum. Die Geschichte, die ihm Suckling beim Gehen schilderte, erforderte seine volle Aufmerksamkeit.
Sie war schnell erzählt. Es schien, als hätte Cripps eine Vereinbarung getroffen, um selbst mit Mironenko zu sprechen, damit er sich von der Integrität des Russen überzeugen konnte.
Das Haus in Schöneberg, in dem das Treffen stattfinden sollte, war schon bei früheren Anlässen benützt worden und galt seit langem als eines der sichersten Häuser in der Stadt. Aber der gestrige Abend hatte alle eines Besseren belehrt. KGB-Leute waren Mironenko offenbar zu dem Haus gefolgt und hatten dort versucht, das Treffen zu verhindern. Niemand konnte bezeugen, was sich anschließend abgespielt hatte. Die beiden Männer, die Cripps begleitet hatten – einer davon Ballards alter Kollege Odell –, waren tot, Cripps selbst lag im Koma.
»Und Mironenko?« wollte Ballard wissen.
Suckling zuckte mit den Achseln. »Wahrscheinlich haben sie ihn in die Heimat zurückgebracht«, sagte er.
Ballard nahm einen Hauch von Hinterlist an dem Mann wahr. »Es rührt mich, daß Sie mich auf dem laufenden halten«, sagte er zu Suckling. »Aber warum? «
»Sie und Odell waren Freunde, nicht?« lautete die Antwort.
»Nachdem Cripps von der Bildfläche verschwunden ist, haben Sie nicht mehr sehr viele.«
»Tatsächlich?«
»Ich wollte Sie nicht beleidigen«, sagte Suckling hastig.
»Aber Sie haben den Ruf, ein Einzelgänger zu sein.«
»Kommen Sie zur Sache«, meinte Ballard.
»Sonst ist nichts«, protestierte Suckling. »Ich dachte nur, Sie wollten wissen, was sich abgespielt hat. Ich riskiere meinen Hals dabei.«
»‘n guter Versuch«, sagte Ballard. Er blieb stehen. Suckling ging noch ein oder zwei Schritte weiter, bevor er
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