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Das 6. Buch des Blutes - 6

Das 6. Buch des Blutes - 6

Titel: Das 6. Buch des Blutes - 6 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clive Barker
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Vorstellung.
    »Unter den gegebenen Umständen war keines der beiden von Nutzen.«
    »Ich flehe Sie an…« murmelte Solomonow, »…lassen Sie mich gehen. Ich werde nichts sagen.«
    »Du wirst sagen, was sie von dir verlangen, Genosse, wie wir alle«, antwortete Mironenko. »Ist es nicht so, Ballard? Wir sind alle Sklaven unseres Glaubens.«
    Ballard betrachtete Mironenkos Gesicht eingehend. Es besaß eine Fülle, die sich nicht allein durch die Schwellungen erklären ließ. Die Haut schien beinahe zu wuseln.
    »Sie haben dafür gesorgt, daß wir vergessen«, sagte Mironenko.
    »Was?« wollte Ballard wissen.
    »Uns selbst«, lautete die Antwort, und damit trat Mironenko aus seiner düsteren Ecke ins Licht.
    Was hatten Solomonow und sein toter Kumpel mit ihm gemacht? Seine Haut war eine Masse winziger Quetschungen, und er hatte dunkle Flecken an Hals und Schläfen, die Ballard für Blutergüsse gehalten hätte, wenn sie sich nicht so ausbeulen würden, als nistete etwas unter der Haut. Mironenko ließ jedoch keinerlei Unbehagen erkennen, als er die Hand nach Solomonow ausstreckte. Bei der Berührung verlor der gescheiterte Attentäter die Kontrolle über seine Blase, aber Mironenkos Absichten waren nicht mörderischer Art. Mit schauriger Zärtlichkeit strich er eine Träne von Solomonows Wange.
    »Geh zu ihnen zurück«, riet er dem zitternden Mann. »Sag ihnen, was du gesehen hast.«
    Solomonow schien seinen Ohren nicht zu trauen, oder aber er vermutete – wie Ballard –, daß diese Geste des Verzeihens eine Finte war und jeder Fluchtversuch fatale Konsequenzen heraufbeschwören würde.
    Aber Mironenko beharrte darauf. »Geh schon«, sagte er.
    »Bitte laß uns alleine. Oder möchtest du bleiben und mitessen?«
    Solomonow ging einen unsicheren Schritt auf die Tür zu. Da kein Schlag erfolgte, machte er einen zweiten Schritt, dann einen dritten, und plötzlich war er zur Tür draußen und floh.
    »Sag es ihnen!« brüllte Mironenko hinter ihm her.
    Die Eingangstür fiel zu.
    »Was soll er ihnen sagen?« fragte Ballard.
    »Daß ich mich erinnert habe«, sagte Mironenko. »Daß ich die Haut wiedergefunden habe, die sie mir gestohlen haben.«
    Ballard fühlte sich zum ersten Mal, seit er dieses Haus betreten hatte, unbehaglich. Nicht wegen des Blutes oder der Knochen zu seinen Füßen, sondern wegen des Ausdrucks in Mironenkos Augen. Er hatte so leuchtende Augen schon einmal gesehen. Aber wo?
    »Sie…« sagte er leise, »Sie haben das getan?«
    »Freilich«, antwortete Mironenko.
    »Wie?« sagte Ballard. Vertrauter Donner wurde in seinem Hinterkopf laut. Er versuchte, nicht darauf zu achten und eine Erklärung aus dem Russen herauszulocken. »Wie, verdammt?«
    »Wir sind gleich«, antwortete Mironenko. »Ich rieche es in Ihnen.«
    »Nein«, sagte Ballard. Das Dröhnen schwoll an.
    »Doktrinen sind nur Worte. Nicht, was man uns beibringt, ist wichtig, sondern was wir wissen. In unserem Mark, in unseren Seelen.«
    Er hatte schon einmal von Seelen gesprochen, von Stätten, die seine Herren erbaut hatten und wo ein Mensch gebrochen werden konnte. Damals hatte Ballard die Worte für bloße Übertreibung gehalten; jetzt war er nicht mehr so sicher. Welchen Zweck hatte die Beerdigung gehabt, wenn nicht, um einen geheimen Teil von ihm zu unterdrücken? Den Mark-Teil, den Seelen-Teil.
    Bevor Ballard die passenden Worte finden konnte, um sich zu offenbaren, erstarrte Mironenko, und seine Augen leuchteten mehr denn je.
    »Sie sind draußen«, sagte er.
    »Wer?«
    Der Russe zuckte mit den Achseln. »Ist das wichtig?« fragte er. »Ihre Seite oder meine. Beide werden uns zum Schweigen bringen, wenn sie können.«
    Das stimmte.
    »Wir müssen schnell sein«, sagte er und ging zum Flur. Die Eingangstür stand offen. Mironenko war binnen Sekunden dort. Ballard folgte. Sie schlichen gemeinsam auf die Straße hinaus.
    Der Nebel war dicker geworden. Er schwebte müßig um die Straßenlaternen, machte ihr Licht trübe und verwandelte jeden Torbogen in ein Versteck. Ballard wartete nicht, bis er die Verfolger ins Freie gelockt hatte, sondern folgte Mironenko, der, trotz seiner Masse flink, schon ein gutes Stück voraus war.
    Ballard mußte laufen, damit er den Mann nicht aus den Augen verlor. Eben war er noch zu sehen, und im nächsten Augenblick hatte sich schon der Nebel hinter ihm geschlossen.
    Das Wohngebiet, durch das sie gingen, wich anonymeren Gebäuden, möglicherweise Lagerhallen, deren fensterlose Wände sich in die Dunkelheit

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