Das 6. Buch des Blutes - 6
hiesigen Gott. Er hatte halb damit gerechnet, daß ein Empfangskomitee in seinem Zimmer auf ihn warten würde, aber es war niemand da. Entweder hatte Suckling seinen Rundruf verschieben müssen, oder die hohen Tiere beratschlagten noch über ihre Taktik. Er steckte die wenigen Habseligkeiten ein, die er vor ihren berechnenden Augen verbergen wollte, dann verließ er das Gebäude wieder, ohne daß jemand einen Versuch unternommen hätte, ihn aufzuhalten.
Trotz der Kälte, die die grimmigen Straßen noch grimmiger machte, war es schön, am Leben zu sein. Er beschloß, ohne ersichtlichen Grund, in den Zoo zu gehen, was er noch nie gemacht hatte, obwohl er die Stadt schon seit zwei Jahrzehnten besuchte. Während er ging, dachte er darüber nach, daß er noch niemals so frei gewesen war wie jetzt, daß er die Knechtschaft wie einen alten Mantel abgestreift hatte. Kein Wunder, daß sie Angst vor ihm hatten. Sie hatten guten Grund dazu.
Die Kantstraße war belebt, aber er bahnte sich mühelos einen Weg durch die Passanten. Es war fast, als spürten sie eine besondere Entschlossenheit in ihm und machten einen großen Bogen um ihn. Aber als er sich dem Eingang des Zoos näherte, stieß ihn jemand an. Er drehte sich um, um den Mann zurechtzuweisen, sah aber nur noch seinen Hinterkopf in der Menge, die zur Hardenbergstraße ging. Da er vermutete, daß man ihn bestohlen hatte, überprüfte er seine Taschen und stellte fest, daß in eine ein Zettel gesteckt worden war. Er war schlau genug, ihn nicht gleich an Ort und Stelle zu lesen, sah sich aber noch einmal beiläufig um, ob er den Boten nicht erkannte. Der Mann war bereits verschwunden.
Er verschob den Besuch im Zoo und ging statt dessen zum Tiergarten, und dort – in der Wildnis des großen Parks – fand er eine Stelle, wo er die Nachricht lesen konnte. Sie war von Mironenko. Er bat um ein Treffen, um etwas besonders Dringendes zu besprechen. Als Treffpunkt wurde ein Haus in Marienfelde genannt. Ballard prägte sich alle Einzelheiten ein, dann zerriß er den Zettel.
Es war selbstverständlich durchaus möglich, daß die Einladung eine Falle war, entweder von seinen eigenen Leuten oder von der Gegenseite. Vielleicht um seine Loyalität festzustellen, oder um ihn in eine Situation zu manövrieren, in der er mühelos beseitigt werden konnte. Aber er hatte trotz solcher Zweifel gar keine andere Wahl, als zu gehen und zu hoffen, daß tatsächlich Mironenko das blinde Treffen vereinbart hatte.
Was das Rendezvous auch für Gefahren bringen mochte, so neu waren sie nicht. Und wenn man seine schon lange gehegten Zweifel hinsichtlich der Zuverlässigkeit des Sehens in Betracht zog, konnte man da nicht sagen, daß jedes Treffen, das er vereinbart hatte, in gewissem Sinne blind gewesen war?
Am späten Nachmittag verdichtete sich die feuchte Luft, und als er in der Hildburghauserstraße aus dem Bus ausstieg, hatte der Nebel die Stadt fest im Griff und machte die Kälte noch unbehaglicher.
Ballard schritt rasch durch die stillen Straßen. Er kannte den Bezirk kaum, doch lag dieser so nahe an der Mauer, daß er des letzten Restes Atmosphäre, den er einstmals besessen haben mochte, beraubt war. Viele Häuser standen leer, und die bewohnten waren fast alle wegen der Nacht, der Kälte und den Lichtern der Wachtürme verriegelt. Die winzige Seitenstraße, die Mironenko genannt hatte, fand er nur mit Hilfe eines Stadtplans.
Das Haus war unbeleuchtet. Ballard klopfte laut, hörte aber keine Schritte in der Diele. Er hatte sich verschiedene Möglichkeiten vorgestellt, aber daß überhaupt niemand reagierte, gehörte nicht dazu. Er klopfte noch einmal; und noch einmal. Erst jetzt hörte er Laute im Inneren, und schließlich wurde die Tür aufgemacht. Der Flur war grau und braun gestrichen und wurde lediglich von einer kahlen Glühbirne erhellt. Der Mann, dessen Silhouette sich vor dem freudlosen Hintergrund abzeichnete, war nicht Mironenko.
»Ja?« sagte er. »Was wollen Sie?« Er sprach deutsch mit einem deutlich russischen Akzent.
»Ich suche nach einem Freund«, sagte Ballard.
Der Mann, der beinahe so breit war wie die Tür, unter der er stand, schüttelte den Kopf.
»Es ist niemand da«, sagte er. »Nur ich.«
»Man hat mir gesagt …«
»Sie müssen sich im Haus geirrt haben.«
Der Mann hatte den Satz kaum beendet, als am anderen Ende des trübseligen Flurs Lärm laut wurde. Möbel wurden umgeworfen, jemand hatte angefangen zu schreien.
Der Russe sah über die Schulter und
Weitere Kostenlose Bücher