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Das 6. Buch des Blutes - 6

Das 6. Buch des Blutes - 6

Titel: Das 6. Buch des Blutes - 6 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clive Barker
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protestierte er.
    »Bestimmt«, sagte sie. »Ich kenne Leute, die würden ihren Augapfel hergeben, um ins Theater zu kommen. Und für einen Blick hinter die Kulissen… Alle werden mich beneiden.«
    »Das freut mich«, sagte er und strich ihr über die Wange.
    Sie hatte damit gerechnet. Noch etwas, womit sie prahlen konnte: wie sie von dem Mann verführt worden war, den die Kritiker den Magus von Manhattan nannten.
    »Ich würde gerne mit dir schlafen«, flüsterte er ihr zu.
    »Hier?« sagte sie.
    »Nein«, sagte er zu ihr. »Nicht in Hörweite der Tiger.«
    Sie lachte. Sie bevorzugte Liebhaber, die zwanzig Jahre jünger waren als Swann – er sah aus, so hatte jemand bemerkt, wie ein Mann, der um sein Profil trauert –, aber seine Berührung versprach ein Geschick, wie es kein Junge aufbringen konnte.
    Ihr gefiel der Hauch von Zerstörung, den sie hinter seiner Gentleman-Fassade spürte. Swann war ein gefährlicher Mann.
    Wenn sie ihn abwies, fand sie vielleicht nie wieder einen.
    »Wir könnten in ein Hotel gehen«, schlug sie vor.
    »Ein Hotel«, sagte er. »Das ist eine gute Idee.«
    Nun kamen ihr doch Zweifel. »Was ist mit Ihrer Frau…«
    fragte sie. »Man könnte uns sehen.«
    Er nahm ihre Hand. »Sollen wir uns lieber unsichtbar machen?«
    »Ich meine es ernst.«
    »Ich auch«, beharrte er. »Glauben Sie mir, sehen ist nicht glauben. Ich muß es wissen. Es ist der Grundstein meines Berufes.«
    Sie schien nicht beruhigt zu sein. »Wenn uns jemand erkennt«, sagte er zu ihr, »werde ich ihnen einfach sagen, daß ihnen ihre Augen einen Streich gespielt haben.«
    Darüber lächelte sie, und er küßte sie. Sie erwiderte den Kuß mit rückhaltloser Leidenschaft.
    »Wunderbar«, sagte er, als sie voneinander ließen. »Sollen wir gehen, bevor die Tiger zu tratschen anfangen?«
    Er führte sie über die Bühne. Die Putzfrauen hatten ihre Arbeit noch nicht aufgenommen, auf den Brettern lagen Rosenknospen. Manche waren zertreten, ein paar nicht. Swann ließ ihre Hand los und ging zu den Blumen hinüber.
    Sie sah zu, wie er sich bückte, um eine Rose vom Boden aufzuheben, und die Geste bezauberte sie, aber bevor er sich wieder ganz aufgerichtet hatte, nahm sie eine Bewegung in der Luft über ihm wahr. Sie sah auf und erblickte einen Silberstreifen, der eben in diesem Augenblick auf ihn herabstürzte.
    Sie wollte ihn warnen, aber das Schwert war schneller als ihre Zunge. Im letzten Augenblick schien er die Gefahr zu spüren, in der er sich befand, und sah sich, die Rosenknospe in der Hand, um, aber die Spitze berührte bereits seinen Rücken. Der Schwung des Schwertes trieb es bis zum Heft durch seinen Körper. Blut spritzte aus der Brust auf den Boden. Er gab keinen Laut von sich, kippte aber vornüber und schob zwei Drittel des Schwerts wieder aus seinem Körper heraus, als er auf dem Bühnenboden aufschlug.
    Sie hätte geschrien, wenn nicht ein Geräusch aus dem Aufbau von Zauberhilfsmitteln in den Flügeln neben ihr, ein gedämpftes Knurren, das zweifellos die Stimme des Tigers war, ihre Aufmerksamkeit beansprucht hätte. Sie erstarrte. Es gab wahrscheinlich Verhaltensmaßregeln, wie man einen wilden Tiger am besten besänftigte, aber sie als geborene Manhattanerin, die ihr ganzes Leben in der Stadt verbracht hatte, war nicht vertraut mit diesen Techniken.
    »Swann?« sagte sie, da sie immer noch hoffte, dies könnte eine groteske Illusion sein, die er ausschließlich ihretwegen inszeniert hatte. »Swann. Bitte stehen Sie auf.«
    Aber der Magier blieb liegen, wo er gestürzt war, und die Blutlache unter ihm wurde immer größer.
    »Wenn das ein Scherz ist«, sagte sie zögernd, »finde ich ihn überhaupt nicht komisch.« Als er nach dieser Bemerkung nicht aufstand, versuchte sie es mit einer netteren Taktik. »Swann, mein Lieber, ich würde jetzt gerne gehen, wenn es dir nichts ausmacht.«
    Wieder das Knurren. Sie wollte sich zwar nicht umdrehen und nach seinem Erzeuger suchen, aber sie wollte auch nicht von hinten angesprungen werden.
    Vorsichtig sah sie sich um. Die Seitenflügel waren dunkel.
    Das Durcheinander des Zubehörs machte es ihr unmöglich, den genauen Standort des Raubtiers zu bestimmen. Aber sie konnte es noch hören; seine Schritte, das Knurren. Sie wich Schritt für Schritt zum Bühnenrand zurück. Der zugezogene Vorhang riegelte sie vom Auditorium ab, aber sie hoffte, daß sie unter ihm hindurchkriechen konnte, bevor der Tiger bei ihr war.
    Als sie mit dem Rücken an dem schweren Stoff stand,

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