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Das 6. Buch des Blutes - 6

Das 6. Buch des Blutes - 6

Titel: Das 6. Buch des Blutes - 6 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clive Barker
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Fluchtversuch zur Treppe, doch die Hand der Bestie hieb mit einem mühelosen Schlag die Schädeldecke entzwei. Der Schütze sackte nach vorne, sein Geruch erfüllte den Treppenabsatz. Die Bestie vergaß ihre anderen Feinde, warf sich auf den Fleischabfall und aß. Jemand sagte: »Ballard.«
    Die Bestie schlürfte die Augen des toten Mannes mit einem einzigen Schluck – wie Austern.
    Wieder diese Silben. »Ballard.« Die Bestie hätte weiter-gegessen, aber das Geräusch von Weinen drang ihr ans Ohr.
    Sie war gegenüber sich selbst abgestumpft, aber nicht gegen Kummer. Sie ließ das Fleisch aus den Händen fallen und drehte sich um. Der Mann, der weinte, weinte nur mit einem Auge; das andere sah sie seltsam ungerührt an. Aber der Schmerz im lebenden Auge war wirklich tief. Die Bestie wußte, das war Verzweiflung; dieses Leiden war ihr so nahe, daß es die süße Verwandlung nicht völlig auslöschen konnte. Der weinende Mann lag in den Armen eines anderen, der seinem Gefangenen eine Pistole an die Schläfe drückte.
    »Wenn Sie noch eine Bewegung machen«, sagte der Fänger, »blase ich ihm den Kopf weg. Haben Sie verstanden?«
    Die Bestie wischte sich den Mund ab.
    »Sagen Sie es ihm, Cripps. Er ist Ihr Baby. Machen Sie es ihm begreiflich.«
    Der einäugige Mann wollte sprechen, doch die Worte gingen über seine Kraft. Blut aus der Wunde im Unterleib floß ihm zwischen den Fingern hervor.
    »Keiner von euch muß sterben«, sagte der Fänger. Der Bestie gefiel die Melodik seiner Stimme nicht; sie war schrill und falsch. »London hätte Sie viel lieber lebend. Warum sagen Sie es ihm nicht, Cripps? Sagen Sie ihm, daß ich ihm nichts tun will.«
    Der weinende Mann nickte.
    »Ballard…« murmelte er. Seine Stimme war sanfter als die andere. Die Bestie hörte zu.
    »Verraten Sie mir, Ballard…« sagte er, »…wie ist es?«
    Die Bestie konnte die Frage nicht ganz verstehen.
    »Bitte sagen Sie es mir. Aus reiner Neugier…«
    »Verdammt…« sagte Suckling und drückte Cripps die Pistole ins Fleisch. »Das ist keine Diskussionsrunde.«
    »Ist es gut?« fragte Cripps, der weder auf den Mann noch die Waffe achtete.
    »Seien Sie still!«
    »Antworten Sie mir, Ballard. Wie ist es? « Als er Cripps in die verzweifelten Augen sah, wurde Ballard die Bedeutung der ausgestoßenen Laute bewußt, die Worte fügten sich zusammen wie Mosaiksteine. »Ist es gut?« fragte der Mann. Ballard hörte das Lachen in seinem Hals, und dort fand er auch die Silben, um zu antworten. »Ja«, sagte er dem weinenden Mann. »Ja. Es ist gut.«
    Er hatte kaum ausgesprochen, als Cripps mit der Hand nach Suckling griff. Niemand würde je erfahren, ob Selbstmord oder Flucht seine Absicht war. Der Zeigefinger krümmte sich, eine Kugel bohrte sich nach oben durch Cripps’ Kopf und verteilte seine Verzweiflung über die Decke. Suckling schleuderte den Leichnam von sich und wollte erneut anlegen, aber die Bestie war schon über ihm.
    Hätte er noch mehr von einem Menschen gehabt, hätte Ballard vielleicht überlegt, ob er Suckling leiden lassen sollte, aber derlei perverse Ambitionen hatte er nicht mehr. Sein einziger Gedanke war, den Feind so wirkungsvoll wie möglich auszulöschen. Das erledigten zwei heftige, tödliche Hiebe.
    Nachdem der Mann beseitigt war, ging Ballard zu Cripps. Das Glasauge hatte die Vernichtung überlebt. Es sah starr geradeaus und betrachtete ungerührt die Verwüstungen ringsum. Ballard holte es aus dem verstümmelten Kopf und steckte es in die Tasche, dann ging er in den Regen hinaus.
    Es dämmerte. Er wußte nicht, in welchen Bezirk von Berlin er gebracht worden war, aber seine von der Vernunft befreite Intuition führte ihn durch Seitenstraßen und Schatten zu einem Ödland am Stadtrand, in dessen Mitte eine einsame Ruine stand. Man konnte bestenfalls vermuten, welchen Zweck das Gebäude einmal gehabt haben mochte (ein Schlachthaus? ein Opernhaus?), aber es war durch eine Laune des Schicksals der Zerstörung entkommen, obwohl alle anderen Häuser im Umkreis von mehreren hundert Metern dem Erdboden gleichgemacht worden waren. Als er über das unkrautüberwucherte Geröll schritt, änderte sich die Windrichtung um ein paar Grad und trug ihm den Geruch seines Stammes zu. Es waren viele da, im Schutz der Ruine versammelt. Einige lehnten mit dem Rücken an der Wand und teilten sich eine Zigarette; manche waren makellose Wölfe und streiften mit goldenen Augen, Geistern gleich, durch die Dunkelheit; wieder andere hätten als Menschen

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