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Das 6. Buch des Blutes - 6

Das 6. Buch des Blutes - 6

Titel: Das 6. Buch des Blutes - 6 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clive Barker
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gab einer der Schatten im Seitenflügel seine Doppeldeutigkeit auf, und das Tier trat hervor. Es war nicht schön, wie sie gedacht hatte, als es im Käfig war. Es war groß und tödlich und hungrig. Sie ging in die Hocke und griff nach dem Saum des Vorhangs. Der Stoff war äußerst schwer, und es machte ihr mehr Mühe, ihn hochzuheben, als sie erwartet hatte, aber es gelang ihr, sich halb darunter hindurchzuschieben, bis sie, Kopf und Hände auf die Bretter gepreßt, spürte, wie der Tiger nähergestapft kam. Einen Augenblick später fühlte sie seinen heißen Atem auf dem bloßen Rücken und schrie, während er die Krallen in ihren Körper schlug und sie vom Anblick der Sicherheit weg- und auf seine dampfenden Kiefer zuzog.
    Doch nicht einmal da wollte sie ihr Leben aufgeben. Sie trat gegen ihn, riß ihm das Fell büschelweise aus und ließ einen Hagel von Schlägen auf seine Schnauze herabregnen. Aber ihr Widerstand war angesichts solcher Übermacht unbedeutend, ihre Gegenwehr, so heftig sie auch war, behinderte den Tiger kein bißchen. Mit einem beiläufigen Prankenhieb riß er ihren Körper auf. Barmherzigerweise stellten ihre Sinne beim ersten Schmerz jeglichen Anspruch auf Wahrscheinlichkeit ein und flüchteten sich statt dessen in ausgiebige Phantasiegespinste.
    Es schien ihr, als würde sie von irgendwo Beifall hören und das Toben eines begeisterten Publikums; anstelle des Blutes, das aus ihrem Körper spritzte, kamen Fontänen funkelnden Lichts.
    Die Schmerzen, die ihre Nervenenden erlitten, machten ihr überhaupt nichts aus. Selbst als das Tier sie in drei oder vier Teile zerlegt hatte, lag ihr Kopf am Bühnenrand und sah zu, wie ihr Oberkörper zerstückelt und ihre Gliedmaßen gefressen wurden.
    Und die ganze Zeit, während sie sich fragte, wie das alles möglich sein konnte – wie ihre Augen Zeugen dieses letzten Abendmahls werden konnten –, fiel ihr nur immer wieder Swanns Antwort ein: » Es ist Magie«, hatte er gesagt.
    Tatsächlich dachte sie gerade das, daß es Magie sein mußte, als der Tiger zu ihrem Kopf herübergetrottet kam und ihn mit einem einzigen Bissen hinunterschlang.
    Harry D’Amour wiegte sich gerne in dem Gedanken, daß er in einem bestimmten Personenkreis einen gewissen Ruf hatte – ein Zirkel, zu dem freilich nicht seine Exfrau, seine Gläubiger oder jene anonymen Kritiker gehörten, die regelmäßig Hun-deexkremente durch den Briefschlitz seiner Bürotür warfen.
    Aber die Frau, die er gerade am Telefon hatte, deren Stimme so voller Kummer war, als hätte sie ein halbes Jahr lang geweint und wollte gleich wieder damit anfangen, sie wußte, welch ein Ausbund an Tugend er war.
    »… ich brauche Ihre Hilfe, Mr. D’Amour, sehr dringend.«
    »Ich bin momentan mit mehreren Fällen beschäftigt«, sagte er. »Vielleicht könnten Sie in mein Büro kommen?«
    »Ich kann das Haus nicht verlassen«, informierte ihn die Frau. »Ich werde Ihnen alles erklären. Bitte, kommen Sie.«
    Er war ernsthaft in Versuchung geführt. Aber er arbeitete wirklich an einigen Fällen, von denen einer, sollte er nicht bal-digst aufgeklärt werden, mit einem Brudermord enden konnte.
    Er riet ihr, es anderswo zu versuchen.
    »Ich kann nicht zu jedem Beliebigen gehen«, beharrte die Frau.
    »Warum ich?«
    »Ich habe von Ihnen gelesen. Was in Brooklyn geschehen ist.«
    Seine schlimmste Niederlage zu erwähnen war nicht die beste Methode, sich seiner Dienste zu versichern, dachte sich Harry, aber es erweckte eindeutig seine Aufmerksamkeit. Die Vorkommnisse in der Wyckoff Street hatten ganz unschuldig mit einem Ehemann angefangen, der ihn angeheuert hatte, damit er seiner ehebrecherischen Frau nachspionierte, und dann im obersten Stock des Lomax-Gebäudes aufgehört, wo die Welt, die er kannte, völlig aus den Fugen geraten war. Nachdem die Leichen gezählt und die überlebenden Priester heimgeschickt waren, stand er da mit einer Angst vor Treppen und mehr Fragen, als er diesseits des Familiengrabs jemals beantworten konnte. Es war nicht angenehm, an diese Schrecken erinnert zu werden. »Ich rede nicht gerne über Brooklyn«, sagte er.
    »Verzeihen Sie«, antwortete die Frau, »aber ich brauche jemanden, der Erfahrung mit… mit dem Okkulten hat.« Sie verstummte einen Augenblick. Er konnte immer noch ihren Atem durch die Leitung hören, leise, aber gleichmäßig. »Ich brauche Sie«, sagte sie. Er hatte während dieser Pause, als nur ihre Angst zu hören gewesen war, schon entschieden, welche Antwort er ihr

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