Das 6. Buch des Blutes - 6
geben würde.
»Ich komme.«
»Ich bin Ihnen sehr dankbar«, sagte sie. »Das Haus liegt in der Einundsechzigsten Straße Ost…« Er schrieb die Einzelheiten auf. Ihre letzten Worte waren: »Bitte beeilen Sie sich.«
Dann legte sie den Hörer auf.
Er erledigte selbst noch einige Anrufe in der vergeblichen Hoffnung, zwei seiner reizbaren Kunden zu beschwichtigen, dann zog er sein Jackett an, schloß das Büro ab und ging nach unten. Auf dem Treppenabsatz und in der Diele herrschte ein durchdringender Geruch. Als er bei der Eingangstür war, sah er Chaplin, den Hausmeister, aus dem Keller kommen.
»Hier stinkt’s«, sagte er zu dem Mann.
»Desinfektionsmittel.«
»Katzenpisse«, sagte Harry. »Unternehmen Sie etwas dagegen, ja? Ich habe einen Ruf zu wahren.«
Der Mann lachte, als er ging.
Das Sandsteinhaus Einundsechzigste Straße Ost war in makellosem Zustand. Er stand schwitzend und mit übelriechendem Atem auf den blitzsauberen Stufen und fühlte sich wie eine Sau. Der Gesichtsausdruck des Mannes, der die Tür aufmachte, bestätigte ihn nur noch in dieser Überzeugung.
»Ja?« wollte der Mann wissen.
»Ich bin Harry D’Amour«, sagte er. »Ich wurde angerufen.«
Der Mann nickte. »Sie kommen besser rein«, sagte er ohne jegliche Begeisterung.
Drinnen war es kühler als draußen und angenehmer. Das Haus roch nach Parfüm. Harry folgte dem mißbilligenden Gesicht den Flur entlang in ein großes Zimmer, an dessen gegenüberliegender Seite – dazwischen lag ein orientalischer Teppich, in den alles eingewoben war, abgesehen vom Preis – eine Witwe saß. Schwarz stand ihr nicht; Tränen auch nicht.
Sie erhob sich und streckte ihm die Hand entgegen. »Mr.
D’Amour?«
»Ja.«
»Valentin wird Ihnen etwas zu trinken bringen, wenn Sie möchten.«
»Bitte. Milch, wenn Sie haben.« Sein Magen war seit einer Stunde gereizt. Seit sie Wyckoff Street erwähnt hatte.
Valentin entfernte sich aus dem Zimmer, wandte den Blick seiner Knopfaugen aber erst im allerletzten Moment von Harry ab.
»Es ist jemand gestorben«, sagte Harry, als der Mann gegangen war.
»Ganz recht«, sagte die Witwe und setzte sich wieder. Er setzte sich, ihrer Aufforderung folgend, ihr gegenüber, zwischen so viele Kissen, daß man einen Harem damit hätte bestücken können. »Mein Mann.«
»Das tut mir leid.«
»Dazu ist keine Zeit«, sagte sie, aber ihr Aussehen und ihre Worte straften sie Lügen. Er war froh, daß sie trauerte; Tränenflecken und Müdigkeit entstellten eine Schönheit, die ihn, hätte er sie unbeeinträchtigt zu Gesicht bekommen, starr vor Bewunderung gemacht hätte.
»Sie sagen, daß der Tod meines Mannes ein Unfall war«, sagte sie. »Aber ich weiß es besser.«
»Dürfte ich… nach Ihrem Namen fragen?«
»Natürlich, bitte entschuldigen Sie. Ich heiße Swann, Mr.
D’Amour. Dorothea Swann. Sie haben vielleicht von meinem Mann gehört?«
»Dem Magier?«
»Illusionisten«, sagte sie.
»Ich habe davon gelesen. Tragisch.«
»Haben Sie seine Vorstellung gesehen?«
Harry schüttelte den Kopf. »Ich kann mir den Broadway nicht leisten, Mrs. Swann.«
»Wir waren nur drei Monate mit dieser Vorstellung hier. Wir wollten im September zurück…«
»Zurück?«
»Nach Hamburg«, sagte sie. »Ich mag diese Stadt nicht. Sie ist zu heiß. Und zu grausam.«
»Geben Sie New York nicht die Schuld«, sagte er. »Es kann nichts dafür.«
»Vielleicht«, antwortete sie und nickte. »Vielleicht wäre das, was Swann zugestoßen ist, so oder so passiert, in jeder anderen Stadt. Die Leute sagen mir immer wieder: Es war ein Unfall.
Mehr nicht. Ein Unfall.«
»Aber das glauben Sie nicht?«
Valentin war mit einem Glas Milch zurückgekommen. Er stellte es vor Harry auf den Tisch. Als er gehen wollte, sagte sie: »Valentin. Der Brief?«
Er sah sie seltsam an, beinahe so, als hätte sie etwas Obszönes gesagt.
»Der Brief«, wiederholte sie. Er ging.
»Sie sagten…«
Sie runzelte die Stirn. »Was?«
»Daß es kein Unfall war.«
»O ja. Ich habe siebeneinhalb Jahre mit Swann zusammengelebt und verstand ihn besser als jeder andere. Ich lernte zu spüren, wann er mich bei sich haben wollte und wann nicht.
Ich zog mich dann zurück und ließ ihm seine Privatsphäre.
Genies brauchen Privatsphäre. Und Sie müssen wissen, er war ein Genie. Der größte Illusionist seit Houdini.«
»Tatsächlich?«
»Ich denke manchmal – es war eine Art Wunder, daß er mich in sein Leben gelassen hat…«
Harry hätte am liebsten
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