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Das 6. Buch des Blutes - 6

Das 6. Buch des Blutes - 6

Titel: Das 6. Buch des Blutes - 6 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clive Barker
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gesagt, Swann wäre verrückt gewesen, es nicht zu tun, aber die Bemerkung war unpassend. Sie wollte keine Schmeicheleien, brauchte sie nicht. Brauchte wahrscheinlich überhaupt nichts, nur ihren Mann – lebend.
    »Und jetzt denke ich, ich habe ihn überhaupt nicht gekannt«, fuhr sie fort, »ihn nicht verstanden. Ich denke, vielleicht war auch das ein Trick. Ein Teil seiner Magie.«
    »Ich habe ihn vor einer Weile einen Magier genannt«, sagte Harry. »Sie haben mich verbessert.«
    »Das habe ich«, sagte sie und nahm seine Bemerkung mit einem verzeihungheischenden Blick zur Kenntnis.
    »Entschuldigen Sie. Das war Swann, der gesprochen hat. Er haßte es, wenn er Magier genannt wurde. Er sagte, das sei ein Wort, das für Leute vorbehalten sein sollte, die Wunder tun.«
    »Und er tat keine Wunder?«
    »Er nannte sich selbst immer den Großen Vortäuscher«, sagte sie. Bei diesem Gedanken mußte sie lächeln.
    Valentin kam zurück, seine traurige Miene drückte Argwohn aus. Er hatte einen Umschlag bei sich, den er eindeutig nicht gerne herausgab. Dorothea mußte zu ihm gehen und ihn ihm aus der Hand nehmen. »Ist das klug?« fragte er.
    »Ja«, antwortete sie ihm.
    Er drehte sich auf dem Absatz um und entfernte sich wortlos.
    »Er ist außer sich vor Kummer«, sagte sie. »Verzeihen Sie sein Benehmen. Er war vom Anfang seiner Karriere an bei Swann. Ich glaube, er hat meinen Mann ebensosehr geliebt wie ich.«
    Sie fuhr mit einem Finger in den Umschlag und holte den Brief heraus. Das Papier war blaßgelb und hauchzart. »Ein paar Stunden nach seinem Tod wurde dieser Brief hier persönlich abgegeben«, sagte sie. »Er war an ihn adressiert. Ich habe ihn aufgemacht. Ich finde, Sie sollten ihn lesen.«
    Sie gab ihn Harry. Die Handschrift war kräftig und ungekünstelt.
    Dorothea, wenn Du dies liest, bin ich tot. Du weißt, wie wenig ich von Träumen und Vorahnungen und dergleichen gehalten habe,
    aber in den letzten paar Tagen hatte ich immerzu seltsame Gedanken, und ich befürchte, daß der Tod nahe ist. Wenn ja, so sei es. Man kann nichts dagegen tun. Vergeude keine Zeit damit, das Wie und Warum zu hinterfragen; das ist mittlerweile Schnee von gestern. Du sollst nur wissen, daß ich Dich liebe und auf meine Weise immer geliebt habe. Es tut mir leid, wenn ich Dir Unglück gebracht habe oder jetzt noch bringe, aber es stand nicht in meiner Macht. Ich habe einige Anweisungen, wie mein Leichnam zu beseitigen ist. Bitte befolge sie buch-stabengetreu. Laß Dich von niemandem von dem abbringen,
    was ich Dir sage. Ich möchte, daß mein Leichnam Tag und Nacht bewacht wird, bis ich eingeäschert bin. Versuche nicht, meine sterblichen Überreste nach Europa mitzunehmen. Laß
    mich hier einäschern, so schnell es geht, und streue die Asche in den East River.
    Mein reizender Liebling, ich habe Angst. Nicht vor bösen Träumen oder dem, was mir in diesem Leben zustoßen könnte,
    sondern vor dem, was meine Feinde versuchen könnten, wenn ich tot bin. Du weißt, wie Kritiker sein können: Sie warten, bis man sich nicht mehr wehren kann, dann fangen sie mit dem
    Rufmord an. Es würde zu lange dauern, das alles zu erklären, daher muß ich mich einfach darauf verlassen, daß Du tust, was ich Dir sage. Nochmals, ich liebe Dich und hoffe, daß Du
    diesen Brief niemals lesen mußt.
    Dein Dich bewundernder
    Swann »Schöner Abschiedsbrief«, bemerkte Harry, als er ihn zweimal gelesen hatte. Er legte ihn zusammen und gab ihn der Witwe zurück.
    »Ich möchte, daß Sie bei ihm bleiben«, sagte sie.»Totenwache, wenn Sie so wollen. Bis alle rechtlichen Formalitäten erledigt sind und ich seinen Leichnam verbrennen lassen kann.
    Es dürfte nicht lange dauern. Ich habe schon einen Anwalt damit beauftragt.«
    »Nochmals: Warum ich?«
    Sie wich seinem Blick aus. »Wie er in dem Brief sagt, er war nie abergläubisch. Aber ich bin es. Ich glaube an Omen. Und das Haus hatte in den Tagen vor seinem Tod eine seltsame Atmosphäre. Als wären wir beobachtet worden.«
    »Glauben Sie, daß er ermordet wurde?«
    Sie dachte darüber nach, dann sagte sie: »Ich glaube nicht, daß es ein Unfall war.«
    »Die Feinde, die er erwähnt…«
    »Er war ein großer Mann. Beneidet.«
    »Berufliche Eifersucht? Ist das ein Motiv für Mord?«
    »Alles kann ein Motiv sein, oder nicht?« sagte sie. »Es werden Menschen wegen ihrer Augenfarbe getötet, oder nicht?«
    Harry war beeindruckt. Er hatte zwanzig Jahre gebraucht, um zu lernen, wie willkürlich das Leben war. Sie

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