Das 6. Buch des Blutes - 6
sprach es aus, als sei es allgemein bekannt.
»Wo ist Ihr Mann?« fragte er sie.
»Oben«, sagte sie. »Ich habe den Leichnam hierher bringen lassen, wo ich ihn im Auge behalten kann. Ich kann nicht sagen, daß ich seine Anweisungen verstehen, aber ich werde mich an sie halten.« Harry nickte.
»Swann war mein Leben«, sagte sie leise, grundlos und doch begründet.
Sie führte ihn nach oben. Der Parfümgeruch, den er unter der Tür wahrgenommen hatte, wurde durchdringender. Das Schlafzimmer war als letzte Ruhestätte hergerichtet worden, überall Gestecke und Kränze, deren Geruch ans Halluzinogene grenzte. Inmitten dieses Überflusses der Sarg – ein kostbares Stück in Schwarz und Silber – auf einem Gerüst. Der obere Teil des Deckels war aufgeklappt, die Plüschdecke zurückgeschlagen. Auf Dorotheas Aufforderung hin watete Harry durch die Ehrenbezeugungen und sah sich den Verstorbenen an. Er mochte Swanns Gesicht. Es war voll Humor und einer gewissen Leutseligkeit, auf seine erschöpfte Weise war es sogar hübsch. Hinzu kam: Es hatte die Liebe Dorotheas entfacht; eine bessere Empfehlung konnte ein Gesicht nicht haben.
Harry stand bis zur Taille in Blumen und verspürte, so absurd das war, Neid um die Liebe, die dieser Mann erlebt haben mußte.
»Werden Sie mir helfen, Mr. D’Amour?«
Was konnte er anderes sagen als: »Ja, selbstverständlich werde ich Ihnen helfen.« Das, und: »Nennen Sie mich Harry.«
Heute nacht würden sie ihn in Wing’s Pavillon vermissen. Er hatte in den vergangenen sechseinhalb Jahren jeden Freitagabend den besten Tisch dort besetzt und mit einem einzigen Essen alles kompensiert, was seiner Ernährung an den sechs restlichen Wochentagen an Qualität und Vielfalt fehlte. Dieser Schmaus – die beste chinesische Küche südlich der Canal Street – war stets umsonst, weil er dem Besitzer einmal gute Dienste geleistet hatte. Heute abend würde der Tisch unbesetzt bleiben.
Nicht, daß sein Magen gelitten hätte. Er hatte erst eine Stunde oder so bei Swann gesessen, als Valentin heraufkam und fragte: »Wie mögen Sie Ihr Steak?«
»Gut durch, fast angebrannt.«
Valentin war von dieser Antwort nicht eben angetan. »Ich lasse ein gutes Steak nicht gerne anbrennen«, sagte er.
»Und ich kann kein Blut sehen«, sagte Harry, »auch wenn es nicht mein eigenes ist.«
Der Küchenchef verzweifelte eindeutig am Geschmack seines Gastes und wandte sich ab, um zu gehen. »Valentin?«
Der Mann drehte sich um. »Ist das Ihr Taufname?« fragte Harry.
»Taufnamen sind für Christen«, lautete die Anwort.
Harry nickte. »Es gefällt Ihnen nicht, daß ich hier bin, habe ich recht?«
Valentin antwortete nicht. Er sah an Harry vorbei zu dem offenen Sarg.
»Ich werde nicht lange hiersein«, sagte er, »aber könnten wir für die kurze Zeit nicht Freunde sein?«
Valentin sah ihn wieder an. »Ich habe keine Freunde«, sagte er ohne Feindschaft oder Selbstmitleid. »Jetzt nicht mehr.«
»Okay. Tut mir leid.«
»Was sollte Ihnen leid tun?« wollte Valentin wissen.
»Swann ist tot. Alles vorbei, abgesehen von den Feierlichkeiten.« Das traurige Gesicht ließ keine Tränen zu. Eher hätte ein Stein geweint, dachte Harry. Aber die Trauer war da und um so schlimmer, weil sie dumpf war.
»Eine Frage.«
»Nur eine?«
»Warum wollten Sie nicht, daß ich den Brief lese?«
Valentin zog die Brauen etwas hoch. Sie waren so dünn, als wären sie aufgemalt. »Er war nicht verrückt«, antwortete er.
»Ich wollte nicht, daß Sie ihn wegen dieser Zeilen für einen Wahnsinnigen halten. Behalten Sie für sich, was Sie gelesen haben. Swann war eine Legende. Ich möchte nicht, daß sein Andenken in den Schmutz gezogen wird.«
»Sie sollten ein Buch schreiben«, schlug Harry vor. »Die ganze Geschichte ein für allemal erzählen. Wie ich gehört habe, waren Sie lange bei ihm.«
»O ja«, erwiderte Valentin. »Lange genug, daß ich vernünftig bin und mich hüte, die Wahrheit zu sagen.« Damit entfernte er sich, überließ die Blumen ihrem Welkungsprozeß und Harry seinen Fragen, die zahlreicher waren als zuvor.
Zwanzig Minuten später brachte Valentin ein Tablett herauf:
ein großer Salat, Brot, Wein und ein Steak. Zur Kohle fehlte nicht viel.
»Genau wie ich es mag«, sagte Harry und machte sich darüber her.
Er sah Dorothea Swann nicht, aber er dachte weiß Gott oft an sie. Jedesmal, wenn er ein Flüstern auf der Treppe hörte oder Schritte auf dem Teppichboden der Diele, hoffte er, ihr Gesicht an der
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