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Das 6. Buch des Blutes - 6

Das 6. Buch des Blutes - 6

Titel: Das 6. Buch des Blutes - 6 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clive Barker
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Tür zu sehen, eine Einladung auf den Lippen.
    Wenn man daran dachte, daß sich der Leichnam ihres Mannes hier befand, war dieser Wunsch nicht gerade angebracht, aber was lag dem Illusionisten jetzt noch daran? Er war tot und dahin. Wenn er so etwas wie Großmut besaß, würde er nicht wollen, daß seine Witwe in ihrem Kummer ertrank.
    Harry leerte die halbe Karaffe Wein, und als Valentin – eine Dreiviertelstunde später – mit Kaffee und Calvados zurück kam, bat er ihn, die Flasche dazulassen.
    Bald würde es Nacht werden. Der Verkehr auf der Lexington Street und der Third Avenue war laut. Aus Langeweile beobachtete er vom Fenster aus die Straße. Zwei Liebende zankten lautstark auf dem Gehweg und hörten erst auf, als eine Brünette mit Hasenscharte und einem Pekinesen stehenblieb und sie schamlos beobachtete. Im Haus gegenüber wurden Vorbereitungen für eine Party getroffen. Er beobachtete, wie ein Tisch liebevoll gedeckt und Kerzen angezündet wurden. Nach einer Weile deprimierte ihn das Spionieren, daher rief er nach Valentin und fragte, ob es im Haus einen tragbaren Fernseher gebe und er ihn haben könne. Kaum gesagt, bekam er ihn auch schon, und die nächsten zwei Stunden saß er vor dem kleinen Schwarzweißbildschirm zwischen Orchideen und Lilien auf dem Boden und sah sich sämtliche geistlosen Unterhaltungen an, die liefen, während die silbrige Lumineszenz auf den Blüten flackerte wie aufgeregtes Mondlicht.
    Eine Viertelstunde nach Mitternacht, als die Party gegenüber in vollem Gange war, kam Valentin herauf. »Möchten Sie einen Schlummertrunk?« fragte er.
    »Gerne.«
    »Milch, oder etwas Stärkeres?«
    »Etwas Stärkeres.«
    Er holte eine Flasche feinen Cognac und zwei Gläser. Sie tranken gemeinsam auf den Toten.
    »Mr. Swann.«
    »Mr. Swann.«
    »Wenn Sie heute nacht noch etwas brauchen«, sagte Valentin, »ich bin im Zimmer direkt über Ihnen. Mrs. Swann ist unten, machen Sie sich also keine Sorgen, wenn sie jemanden hören. Sie schläft in letzter Zeit nicht besonders gut.«
    »Wer tut das schon?« antwortete Harry.
    Valentin überließ ihn seiner Nachtwache. Harry hörte den Mann die Treppe hinaufgehen, dann das Ächzen von Dielen einen Stock höher. Er sah wieder zum Fernseher, hatte aber den Faden des Films verloren, den er gesehen hatte. Es war noch lange bis zur Morgendämmerung. In der Zwischenzeit würde sich New York eine tolle Freitagnacht machen: tanzen, streiten, herumspielen.
    Das Bild des Fernsehers fing an zu flackern. Er stand auf und wollte zu dem Gerät gehen, kam aber nie so weit. Nach zwei Schritten schnurrte das Bild zusammen und erlosch völlig; im Zimmer wurde es dunkel. Harry bemerkte noch ganz kurz, daß kein Licht von der Straße zum Fenster hereindrang. Dann ging der Wahnsinn los.
    Etwas bewegte sich in der Schwärze: Undeutliche Gestalten stiegen auf und sanken nieder. Er brauchte einen Augenblick, bis ihm klar wurde, was das war: die Blumen! Unsichtbare Hände rissen die Gebinde und Kränze in Stücke und warfen die Blüten in die Luft. Er sah zu, wie sie herabfielen, aber sie blieben nicht am Boden liegen. Anscheinend hatten die Bodendielen jegliches Vertrauen in sich verloren und waren einfach verschwunden, und daher fielen die Blüten immer weiter – hinab, hinab – durch den Boden des unteren Stockwerks, und durch den Kellerboden, einem Ziel entgegen, das Gott allein kannte.
    Angst packte Harry wie ein alter Drogendealer, der einen schrecklichen Trip versprach. Selbst die wenigen Dielen direkt unter ihm begannen sich aufzulösen. In Sekunden würde er den Weg der Blüten gehen.
    Er wirbelte herum und suchte nach dem Sessel, von dem er aufgestanden war – ein Fixpunkt in diesem trügerischen Alptraum. Der Sessel war noch da; er konnte gerade eben seine Umrisse in der Dunkelheit erkennen. Er streckte die Hände danach aus, während zerrissene Blüten auf ihn herunterregneten, doch als seine Hand die Lehne ergriff, gab der Boden unter dem Sessel den Geist auf, und Harry sah ihn in dem gespenstischen Licht aus der Grube, die unter seinen Füßen klaffte, sich überschlagend in die Hölle stürzen, bis er winzig wie ein Stecknadelkopf war.
    Dann war er verschwunden; und die Blumen waren verschwunden, und die Wärme und Fenster und alles miteinander war verschwunden, nur er nicht.
    Nein, nicht alles. Swanns Sarg war noch da, der Deckel war noch aufgeklappt, die Plüschauskleidung fein säuberlich zurückgeschlagen wie die Decke eines Kinderbetts. Das Gerüst war

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