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Das 6. Buch des Blutes - 6

Das 6. Buch des Blutes - 6

Titel: Das 6. Buch des Blutes - 6 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clive Barker
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nächsten Kreuzung hinunter leer.
    Die hektische Jazzmusik hatte aufgehört.
    Auf der Hut vor Menschen, Bestien oder den Überbleibseln von beiden, schritt Harry den Gehweg entlang. Zwanzig Meter von der Stelle entfernt, wo er gestanden hatte, war der Beton naß. Nicht Blut, wie er erfreut feststellte; die Flüssigkeit hatte die Farbe von Galle und stank zum Himmel. Zwischen den Spritzern befanden sich Spuren, bei denen es sich um menschliches Gewebe handeln konnte. Offenbar hatte Valentin gekämpft und seinem Widersacher eine Wunde zugefügt. Weiter den Gehweg entlang waren noch mehr Spuren dieses Blutes, als wäre das verwundete Ding ein Stück weit gekrochen, bevor es wieder davongeflogen war. Wahrscheinlich mit Valentin.
    Harry wußte, angesichts solcher Übermacht hätten ihm seine geringen Kräfte nichts genützt, aber dennoch hatte er Schuldgefühle. Er hatte den Schrei gehört – hatte den Angreifer herabstoßen sehen –, und die Angst hatte seine Sohlen am Gehweg festgeklebt.
    Angst dieses Ausmaßes hatte er zum letzten Mal in der Wyckoff Street empfunden, als Mimi Lomax’ dämonischer Liebhaber schließlich seine menschliche Maske abgeworfen hatte. Der Gestank von Äther und menschlichem Schmutz hatte das Zimmer erfüllt, und der Dämon war in seiner ganzen abstoßenden Nacktheit vor ihm gestanden und hatte ihm Bilder gezeigt, bei denen seine Eingeweide zu Wasser geworden waren. Diese Bilder sah er jetzt wieder vor sich. Sie würden ihn nie mehr verlassen.
    Er las den Zettel, den Valentin ihm gegeben hatte: Name und Anschrift waren hastig gekritzelt worden, aber gerade noch zu entziffern.
    Ein weiser Mann, vergegenwärtigte sich Harry, würde diesen Zettel zusammenknüllen und in den Gully werfen. Aber zumindest eins hatten ihn die Ereignisse in der Wyckoff Street gelehrt: Wenn man einmal mit jenem Bösen in Berührung gekommen war, wie er es in den vergangenen Stunden gesehen und geträumt hatte, dann konnte man es nicht mehr so einfach loswerden. Er mußte ihm bis zu seinem Ursprung folgen, so abstoßend dieser Gedanke auch war, und je nach seiner eigenen Kraft ein Abkommen damit schließen.
    Für einen derartigen Handel gab es keinen geeigneten Zeitpunkt; die Gegenwart mußte genügen. Er ging zur Lexington zurück und fuhr mit dem Taxi zu der auf dem Zettel genannten Adresse. Niemand öffnete, als er auf die Klingel mit dem Namen Bernstein drückte, aber er weckte den Hausmeister und führte durch die Glastür hindurch ein frustrierendes Gespräch mit ihm. Der Mann war wütend, weil man ihn um diese Zeit geweckt hatte; er beharrte darauf, daß Miss Bernstein nicht in ihrer Wohnung sei, und blieb auch dann ungerührt, als Harry andeutete, es könnte um Tod oder Leben gehen. Erst als Harry seine Brieftasche zückte, zeigte der Bursche ein gewisses Interesse. Schließlich ließ er Harry ein.
    »Sie ist nicht oben«, sagte er und steckte die Scheine ein.
    »Sie ist seit Tagen nicht hiergewesen.«
    Harry nahm den Fahrstuhl. Die Schienbeine taten ihm weh, und der Rücken auch. Er wollte schlafen; erst Bourbon und dann schlafen. Niemand machte die Tür auf, wie der Hausmeister gesagt hatte, aber er klopfte dennoch immer weiter und rief nach ihr.
    »Miss Bernstein? Sind Sie da?« Keine Spur von Leben im Inneren, jedenfalls nicht, bevor er sagte: »Ich möchte mit Ihnen über Swann reden.«
    Er hörte, wie dicht an der Tür heftig eingeatmet wurde.
    »Ist jemand da?« fragte er. »Bitte antworten Sie. Sie brauchen keine Angst zu haben.«
    Nach ein paar Sekunden murmelte eine nuschelnde und melancholische Stimme: »Swann ist tot.«
    Wenigstens sie nicht, dachte Harry. Welche Kräfte Valentin auch immer entführt haben mochten, in diese Ecke von Manhattan waren sie noch nicht gekommen. »Kann ich mit Ihnen reden?« bat er.
    »Nein«, antwortete sie. Ihre Stimme erinnerte an eine Kerzenflamme kurz vor dem Erlöschen.
    »Nur ein paar Fragen, Barbara.«
    »Ich bin im Bauch des Tigers«, antwortete sie bedächtig, »und der will Sie nicht hereinlassen.«
    Vielleicht waren sie doch vor ihm hiergewesen. »Können Sie nicht die Tür erreichen?« lockte er sie. »Sie ist nicht weit entfernt…«
    »Aber er hat mich gefressen«, sagte sie.
    » Versuchen Sie es, Barbara. Es wird den Tiger nicht stören.
    Versuchen Sie es.«
    Stille auf der anderen Seite der Tür, dann ein schlurfendes Geräusch. Machte sie, was er gesagt hatte? Es schien so. Er hörte, wie sich jemand am Türknauf zu schaffen machte.
    »So ist es gut«,

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