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Das 6. Buch des Blutes - 6

Das 6. Buch des Blutes - 6

Titel: Das 6. Buch des Blutes - 6 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clive Barker
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nicht mehr da, ebensowenig der Boden unter dem Gerüst.
    Doch der Sarg schwebte, schwebte wirklich und wahrhaftig in der dunklen Luft wie eine morbide Illusion, während aus der Tiefe ein grollendes Geräusch, gleich einem Trommelwirbel, den Trick begleitete.
    Harry spürte, wie die letzte Festigkeit unter ihm nachgab, vernahm den Lockruf der Grube. Noch während seine Füße den Boden verließen, verschwand dieser Boden im Nichts, und einen schrecklichen Augenblick lang, ehe er die Hände nach dem Sarg ausstreckte, war nichts mehr zwischen ihm und dem Abgrund. Seine rechte Hand fand einen der Griffe und schloß sich dankbar darum. Der Arm wurde ihm beinahe aus dem Gelenk gekugelt, als sein ganzes Körpergewicht daran hing, aber er riß den anderen Arm hoch zum Rand des Sarges. Er benützte ihn als Hebel und zog sich wie ein halbertrunkener Matrose hoch. Es war ein seltsames Rettungsboot, aber schließlich war dies auch ein seltsames Meer. Unendlich tief, unendlich schrecklich.
    Während er sich um einen besseren Halt bemühte, erbebte der Sarg, und als Harry aufsah, stellte er fest, daß der tote Mann aufrecht saß. Swann riß die Augen weit auf. Er sah Harry an. Sein Blick war alles anderes als gütig. Im nächsten Augenblick stand der tote Illusionist auf – der schwebende Sarg schwankte mit jeder Bewegung heftiger. Sobald er senkrecht stand, machte sich Swann daran, seinen Fahrgast loszuwerden, indem er seinen Absatz in Harrys Knöchel bohrte.
    Harry sah zu Swann auf und flehte ihn an, damit aufzuhören.
    Der Große Vortäuscher war schon einen Blick wert. Die Augen quollen ihm aus den Höhlen, das Hemd war zerrissen und entblößte die Brustwunde, wo das Schwert herausgekommen war. Sie blutete wieder. Ein Regen kalten Blutes fiel auf Harrys erhobenes Gesicht. Und der Absatz trat immer nach seinen Händen. Harry spürte, wie er den Halt verlor. Swann ahnte seinen bevorstehenden Triumph und fing an zu lächeln.
    »Hinunter, Junge!« sagte er. »Hinunter!«
    Harry konnte es nicht mehr aushalten. Im verzweifelten Bemühen, sich selbst zu retten, ließ er mit der rechten Hand den Griff los und packte Swanns Hosenbein. Er bekam den Saum zu fassen und zog daran. Der Illusionist hörte auf zu lächeln, als er spürte, wie er das Gleichgewicht verlor. Er griff hinter sich, um sich am Sargdeckel abzustützen, aber diese Geste neigte den Sarg nur noch schräger. Das Plüschkissen fiel an Harrys Kopf vorbei, Blüten folgten. Swann brüllte vor Wut und verpaßte Harrys Hand einen heftigen Tritt. Das war ein Fehler.
    Der Sarg kippte ganz um, und der Mann wurde herausgeschleudert. Harry konnte Swanns böses Gesicht sehen, als der Illusionist an ihm vorbeifiel. Dann verlor auch er den Halt und stürzte ihm hinterher. Die dunkle Luft heulte an seinen Ohren vorbei. Unter ihm breitete die Unterwelt die leeren Arme aus.
    Und dann, durch das Rauschen in seinen Ohren, ein anderer Laut: eine menschliche Stimme.
    »Ist er tot?« wollte sie wissen.
    »Nein«, unterbrach eine andere Stimme, »nein, das glaube ich nicht. Wie heißt er, Dorothea?«
    »D’Amour.«
    »Mr. D’Amour? Mr. D’Amour?«
    Harrys Fall wurde etwas langsamer. Unter ihm brüllte die Unterwelt vor Wut.
    Die kultivierte, aber unmelodische Stimme ertönte wieder.
    »Mr. D’Amour.«
    »Harry«, sagte Dorothea.
    Bei diesem Wort, von dieser Stimme gesprochen, hörte er auf zu fallen. Er spürte, wie er emporgetragen wurde. Er machte die Augen auf. Er lag auf dem soliden Boden, sein Kopf Zentimeter vom Fernsehschirm entfernt. Die Blumen waren überall dort im Zimmer, wo sie hingehörten, Swann in seinem Sarg, und Gott – wenn man den Gerüchten Glauben schenken konnte – im Himmel. »Ich lebe«, sagte er.
    Er hatte ein Publikum für seine Wiederauferstehung. Dorothea und zwei Fremde. Einer, dem die Stimme gehörte, die er zuerst vernommen hatte, stand neben der Tür. Seine Züge waren durchschnittlich, abgesehen von Brauen und Wimpern, die so hell waren, daß sie fast unsichtbar wirkten. Seine Begleiterin stand neben ihm. Wie er strahlte sie eine beunruhigende Banalität aus, frei von jedem äußerlichen Hinweis auf den Charakter.
    »Hilf ihm auf, Engel«, sagte der Mann, und die Frau bückte sich, um ihm zu gehorchen. Sie war kräftiger, als sie aussah, und zog Harry mühelos auf die Beine. Er hatte sich in seinem seltsamen Schlaf übergeben. Er kam sich schmutzig und lächerlich vor.
    »Was ist denn nur geschehen?« fragte er, während ihn die Frau zum Sessel

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