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Das 6. Buch des Blutes - 6

Das 6. Buch des Blutes - 6

Titel: Das 6. Buch des Blutes - 6 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clive Barker
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ermutigte er sie. »Können Sie ihn drehen?
    Versuchen Sie, ihn zu drehen.«
    Im letzten Augenblick dachte er: Angenommen, sie sagt die Wahrheit, und es ist wirklich ein Tiger bei ihr drinnen? Es war zu spät für einen Rückzug, die Tür ging auf. Es war kein Tier in der Diele, nur eine Frau und der Geruch von Unrat. Sie hatte sich eindeutig weder gewaschen noch die Kleidung gewechselt, seit sie das Theater verlassen hatte. Das Abendkleid, das sie an-hatte, war fleckig und zerrissen, die Haut grau vor Schmutz. Er betrat die Wohnung. Sie wich durch die Diele zurück, versuchte verzweifelt, seiner Berührung auszuweichen.
    »Schon gut«, sagte er, »hier ist kein Tiger.«
    Ihre aufgerissenen Augen waren so gut wie leer. Der letzte Rest von Leben darin war der Vernunft verlorengegangen.
    »O doch«, sagte sie. »Ich bin in dem Tiger. Ich bin für alle Zeiten drin.«
    Da er weder die Zeit hatte, noch über das Geschick verfügte, ihr diesen Wahnsinn auszureden, beschloß er, daß es klüger war, einfach mitzuspielen. »Wie sind Sie hineingekommen?«
    fragte er. »In den Tiger. War das, als Sie bei Swann waren?«
    Sie nickte.
    »Sie erinnern sich daran, nicht?«
    »O ja.«
    »Woran erinnern Sie sich?«
    »An ein Schwert, es ist heruntergefallen. Er hob etwas auf…«
    Sie verstummte und runzelte die Stirn.
    »Hob was auf?«
    Plötzlich schien sie verwirrter denn je zu sein. »Wie können Sie mich hören?« fragte sie. »Wo ich doch in dem Tiger bin?
    Sind Sie auch in dem Tiger?«
    »Vielleicht«, sagte er, weil er die Metapher nicht zu genau untersuchen wollte.
    »Wissen Sie, wir sind für immer hier drinnen«, informierte sie ihn. »Wir kommen nie wieder heraus.«
    »Wer hat Ihnen das gesagt?«
    Sie antwortete nicht, sondern legte den Kopf schief. »Hören Sie das?« fragte sie.
    »Hören?«
    Sie ging noch einen Schritt in die Diele zurück. Harry lauschte, aber er konnte nichts hören. Die wachsende Aufregung in Barbaras Gesicht reichte jedoch aus, daß er zur Eingangstür zurückging und sie aufmachte. Der Fahrstuhl war in Bewegung. Er konnte sein leises Summen im Treppenhaus hören. Schlimmer: die Lampen im Flur und im Treppenhaus wurden schwächer. Mit jedem Zentimeter, den der Fahrstuhl höher kam, verloren die Glühbirnen an Energie.
    Er ging wieder in die Wohnung und nahm Barbaras Handgelenk. Sie erhob keine Einwände. Sie hatte den Blick auf die Tür gerichtet, als wüßte sie, daß ihr Verhängnis von dort kam.
    »Wir nehmen die Treppe«, sagte er und führte sie ins Treppenhaus hinaus. Die Lichter waren kurz davor, ganz auszugehen. Er sah auf die Stockwerkszahl, die über der Fahrstuhltür aufleuchtete. War das hier das oberste Geschoß oder eins tiefer? Er konnte sich nicht erinnern, und er hatte auch keine Zeit zum Nachdenken, weil die Lichter völlig ausgingen.
    Er stolperte mit dem Mädchen im Schlepptau über das unbekannte Gelände des Flurs und flehte zu Gott, daß er die Treppe finden würde, bevor der Fahrstuhl dieses Stockwerk erreichte.
    Barbara wollte verweilen, aber er trieb sie zur Eile an. Als er die erste Stufe erreicht hatte, blieb der Fahrstuhl stehen.
    Die Türen gingen zischend auf, kaltes Neonlicht überschwemmte das Treppenhaus. Er konnte die Quelle dieses Lichtes nicht sehen, wollte auch gar nicht, aber es hatte die Wirkung, dem Auge jeden Fleck und jeden Makel zu zeigen, jede Spur von Verfall und schleichender Fäulnis, das die Farbe zu übertünchen versuchte. Der Anblick fesselte Harrys Aufmerksamkeit nur einen Augenblick, dann nahm er die Frau fester an der Hand, und sie begannen ihren Abstieg. Barbara interessierte sich jedoch nicht für die Flucht, sondern für die Ereignisse im Treppenhaus. Solchermaßen abgelenkt, stolperte sie und fiel schwer gegen Harry. Die beiden wären gestürzt, hätte er nicht das Geländer zu fassen bekommen. Er drehte sich wütend zu ihr um. Sie waren ein Stück vom Flur entfernt, aber das Licht von oben fiel herunter und erhellte Barbaras Gesicht.
    In dem unbarmherzigen Schein sah Harry den Verfall emsig am Werk. Sah Fäulnis in den Zähnen und Tod in Haut und Haaren und Nägeln. Zweifellos hätte er für sie genauso ausgesehen, hätte sie ihn betrachtet, aber sie sah immer noch über die Schulter zurück in den Flur des Treppenhauses. Die Lichtquelle hatte sich in Bewegung gesetzt. Stimmen begleiteten sie.
    »Die Tür ist auf«, sagte eine Frau.
    »Worauf wartest du noch?« antwortete eine Stimme. Es war Butterfield.
    Harry hielt den Atem an und

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