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Das 6. Buch des Blutes - 6

Das 6. Buch des Blutes - 6

Titel: Das 6. Buch des Blutes - 6 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clive Barker
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umklammerte Barbaras Handgelenk fester, während sich die Lichtquelle wieder in Bewegung setzte, wahrscheinlich in Richtung Tür, und dann schwächer wurde, als sie in der Wohnung verschwand.
    »Wir müssen uns beeilen«, sagte er zu Barbara. Sie ging drei oder vier Stufen mit ihm, dann riß sie ohne Vorwarnung die Hand hoch, und ihre Nägel kratzten seine Wange auf. Er ließ ihre Hand los, um sich zu schützen, sie nützte diesen Augenblick aus und floh – die Treppe hinauf.
    Er fluchte und verfolgte sie, aber von ihrer vorherigen Trägheit war nichts mehr zu bemerken. Sie war erstaunlich behende. Er sah im Licht aus dem Treppenhaus, wie sie die oberste Stufe erreichte und verschwand.
    »Hier bin ich«, rief sie noch im Laufen.
    Er blieb reglos auf der Treppe stehen, unfähig, sich zu entscheiden, ob er gehen oder bleiben sollte, und daher unfähig, sich überhaupt zu bewegen. Seit Wyckoff Street haßte er Treppen. Das Licht von oben loderte einen Moment auf und warf den Schatten des Geländers über ihn, dann wurde es wieder dunkler. Er legte die Hände vors Gesicht. Er hatte Kratzer, aber es floß kaum Blut. Was konnte er von ihr erwarten, wenn er ihr zu Hilfe eilte? Nur dasselbe noch einmal. Sie war ein verlorener Fall.
    Gerade als er sie aufgab, hörte er ein Geräusch hinter der Ecke am oberen Ende der Treppe; ein leises Geräusch, das ein Schritt oder ein Seufzer sein konnte. War sie doch ihrem Einfluß entronnen? Oder war sie gar nicht bis zur Wohnungstür gekommen, sondern hatte es sich anders überlegt und war umgekehrt? Noch während er die Chancen abwog, hörte er sie sagen: »Helfen Sie mir…« Die Stimme war das Gespenst eines Gespensts. Aber es war zweifellos ihre, und sie klang entsetzt.
    Er griff nach seinem 38er und ging wieder die Treppe hinauf.
    Noch bevor er um die Ecke war, spürte er, wie sein Nacken juckte, weil sich die Härchen aufrichteten.
    Sie war da. Aber der Tiger auch. Er stand wenige Meter von Harry entfernt im Treppenhausflur, und sein ganzer Körper summte vor latenter Energie. Seine Augen glänzten wäßrig, das offene Maul war unfaßbar groß. Und er hatte Barbara bereits in seinem gewaltigen Rachen. Harry sah ihre Augen im Schlund des Tigers, und in ihnen lag ein Hauch des Begreifens, der schlimmer als jeder Wahnsinn war. Dann schüttelte die Bestie den Kopf hin und her, um seine Beute im Magen zu verstauen.
    Barbara war offenbar in einem Stück geschluckt worden. Kein Blut auf dem Boden und auch nicht am Maul des Tigers; nur das abstoßende Bild der im Rachen des Tieres Verschwindenden.
    Im Magen des Dings stieß sie einen letzten Schrei aus, und Harry hatte den Eindruck, daß die Bestie darüber zu grinsen versuchte. Sie zog das Gesicht in groteske Falten, die Augen wurden zu Schlitzen wie die eines lachenden Buddha, die Lippen spannten sich und entblößten ein Halbrund gleißender Zähne. Schließlich verstummte der Schrei. In diesem Augenblick sprang der Tiger.
    Harry feuerte in den gierigen Leib, und als die Kugel ins Fleisch eindrang, verschwanden das Grinsen und das Maul und die gesamte gestreifte Masse mit einem Schlag. Plötzlich war alles vorbei, und nur etwas pastellfarbenes Konfetti rieselte zu Boden. Der Schuß hatte Aufmerksamkeit erweckt. In ein oder zwei Wohnungen wurden Stimmen laut, das Licht, das Butterfield begleitet hatte, schien wieder heller durch die offene Tür der Bernstein-Wohnung. Er war beinahe versucht, zu bleiben und sich den Lichtträger anzusehen, aber die Vorsicht siegte über die Neugier, und er drehte sich um und lief hinunter, wobei er zwei oder drei Treppenstufen auf einmal nahm. Das Konfetti wirbelte hinter ihm her, als hätte es ein Eigenleben.
    Möglicherweise Barbaras Leben, in Papierschnipsel verwandelt und weggeworfen.
    Er kam außer Atem in der Halle an. Der Hausmeister stand da und sah mit leerem Blick die Treppe hinauf. »Wurde jemand erschossen?« fragte er.
    »Nein«, sagte Harry, »gefressen.«
    Als er zur Tür ging, hörte er, wie sich der Fahrstuhl summend in Bewegung setzte. Möglicherweise nur ein Bewohner, der für einen Spaziergang herunterkam. Vielleicht auch nicht.
    Er ließ den Hausmeister stehen, wie er ihn angetroffen hatte, mürrisch und verwirrt, und ging auf die Straße hinaus, wo er zwei ganze Blocks zwischen sich und das Mietshaus brachte, bevor er zu laufen aufhörte. Sie machten sich nicht die Mühe, ihn zu verfolgen. Wahrscheinlich war er unter ihrer Würde.
    Was sollte er jetzt tun? Valentin war tot, Barbara

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