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Das 6. Buch des Blutes - 6

Das 6. Buch des Blutes - 6

Titel: Das 6. Buch des Blutes - 6 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clive Barker
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bißchen Licht gewöhnten, das von der Straße hereinfiel, folgte Harry ihm durch die Diele. Der andere Mann bewegte sich sicher in der Dunkelheit, und dafür war Harry dankbar. Ohne Valentin, der an seinem Ärmel zupfte und ihn um den offenen Treppenabsatz herumführte, wäre er wahrscheinlich gestürzt und hätte sich zum Krüppel gemacht.
    Hier oben wies, ungeachtet Valentins Worten, ebensowenig wie unten irgend etwas darauf hin, daß jemand anwesend war, aber als sie sich dem Schlafzimmer näherten, wo Swann aufgebahrt war, fing ein kariöser Zahn in Harrys Unterkiefer, der in letzter Zeit ruhig gewesen war, wieder an zu pochen, und seine Eingeweide sehnten sich nach einer Erleichterung. Diese Ungewißheit, was ihn erwartete, war die reinste Marter. Er verspürte den kaum zu beherrschenden Drang, aufzuschreien und den Feind aufzufordern, sich zu offenbaren – falls er überhaupt etwas Begreifbares zu offenbaren hatte.
    Valentin war an der Tür. Er drehte den Kopf in Harrys Richtung, und selbst in der Dunkelheit war zu erkennen, daß die Angst auch bei ihm ihren Tribut forderte. Seine Haut glänzte, er stank nach Schweiß.
    Er deutete auf die Tür. Harry nickte. Er war bereit, zumindest würde er mehr bereit nie sein. Valentin griff nach der Türklinke. Das Geräusch des Schlosses hörte sich ohrenbetäubend laut an, aber niemand im Haus reagierte darauf. Die Tür ging auf, schwüler Blumenduft schlug ihnen entgegen. In der unnatürlichen Wärme des Hauses hatten sie zu welken begonnen, und in ihrem Duft lag Fäulnis. Willkommener als der Geruch war das Licht. Da die Vorhänge nicht ganz zugezogen waren, fiel der Schein der Straßenlaternen herein: die Blumen, die sich wie Wolken um den Sarg herum ballten, der Sessel, in dem Harry gesessen hatte, daneben die Flasche Calvados, der Spiegel über dem Kamin, der dem Zimmer sein geheimes Ich zeigte.
    Valentin war bereits zum Sarg unterwegs, und Harry hörte ihn seufzen, als er seinen alten Herrn ansah. Er vergeudete keine Zeit, sondern machte sich sofort daran, die untere Hälfte des Sargdeckels hochzuklappen. Mit nur einem Arm gelang es ihm jedoch nicht, und Harry eilte ihm zu Hilfe, weil er es eilig hatte, die Sache hinter sich zu bringen und zu verschwinden.
    Als er das solide Holz des Sargs berührte, fiel ihm mit unvorhersehbarer Wucht sein Alptraum wieder ein: die Höllengrube, die sich unter ihm auftat, der Illusionist, der sich wie einer, den man im Schlaf gestört hatte, ungehalten erhob. Diesmal erlebte er kein solches Schauspiel. Tatsächlich hätte etwas Leben in der Leiche die Aufgabe erleichtert. Swann war ein großer Mann, und sein lebloser Körper war störrisch. Es erforderte ihre gesamte Aufmerksamkeit und Anstrengung, ihn nur aus dem Sarg herauszuholen. Schließlich kam er, wenn auch widerwillig und mit hin und her baumelnden Gliedmaßen, doch heraus.
    »Jetzt…« sagte Valentin, »…nach unten.«
    Als sie zur Tür gingen, leuchtete unten auf der Straße etwas auf, so schien es, denn es wurde plötzlich heller im Zimmer.
    Das Licht schmeichelte ihrer Last nicht. Es offenbarte die achtlosen kosmetischen Maßnahmen an Swanns Gesicht und die fortschreitende Verwesung darunter. Harry hatte nur einen Augenblick Zeit, diese Makel zu sehen, dann wurde das Licht abermals heller, und er erkannte, daß es nicht draußen war, sondern drinnen.
    Er sah zu Valentin auf und verzweifelte fast. Beim Diener war das Licht noch unbarmherziger als beim Herrn. Es schien die Haut von Valentins Gesicht abzulösen. Harry sah nur ganz flüchtig, was darunter verborgen war – die Ereignisse erforderten seine Aufmerksamkeit einen Sekundenbruchteil später –, aber er sah genug. Wäre Valentin bei diesem Abenteuer nicht sein Komplize gewesen, er wäre vor ihm davongelaufen.
    »Bringen Sie ihn hier raus!« schrie Valentin.
    Er ließ Swanns Beine los und überließ es Harry, ihn ganz alleine zu schleppen. Aber der Leichnam erwies sich als störrisch. Harry hatte erst zwei quälende Schritte in Richtung Ausgang gemacht, als die Ereignisse katastrophale Ausmaße annahmen.
    Harry hörte Valentin einen Fluch ausstoßen, sah auf und stellte fest, daß der Spiegel nicht mehr so tat, als würde er das Zimmer abbilden, und sich etwas in seiner flüssigen Tiefe bewegte, das das Licht mit sich brachte.
    »Was ist das?« hauchte Harry.
    »Der Castrato«, lautete die Antwort. »Würden Sie jetzt bitte
    gehen!«
    Aber es blieb keine Zeit mehr, Valentins in Panik gegebenen Befehl

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