Das 6. Buch des Blutes - 6
ihn.
»Winston Jowitt. Aber alle nennen mich Byron. Ich bin Dichter, wissen Sie. Jedenfalls am Wochenende.«
»Byron.«
»Hört zu, jeder andere Fahrer wäre ausgerastet, richtig? Zwei Männer und eine Leiche auf dem Rücksitz. Aber so wie ich es sehe, ist das alles nur Material.«
»Für die Gedichte.«
»Richtig«, sagte Byron. »Die Muse ist eine launische Dame, wißt ihr. Man muß sie nehmen, wo man sie findet. Und da wir gerade davon sprechen, haben die Herren eine Ahnung, wohin sie fahren wollen?«
»In Ihr Büro«, sagte Valentin zu Harry. »Dort kann er seinen Schwager anrufen.«
»Gut«, sagte Harry. Dann, zu Byron: »Nach Westen, über die Fünfundvierzigste Straße zur Eighth Avenue.«
»Gemacht«, sagte Byron, und das Taxi verdoppelte auf einer Strecke von zwanzig Metern seine Geschwindigkeit. »Sagt mal«, meinte er, »habt ihr Burschen Lust auf ein Gedicht?«
»Jetzt?« fragte Harry.
»Ich improvisiere gern«, antwortete Byron. »Nennen Sie ein Thema. Irgendein Thema.«
Valentin preßte den verletzten Arm dicht an sich. Leise sagte er: »Wie wäre es mit dem Ende der Welt?«
»Gutes Thema«, antwortete der Dichter. »Laßt mir nur ein oder zwei Minuten Zeit.«
»So schnell?« sagte Valentin.
Sie fuhren auf Umwegen zum Büro, während Byron Jowitt Reime über die Apokalypse dichtete. Auf der Fünfundvierzigsten Straße waren die Schlafwandler unterwegs und suchten nach dem einen oder anderen Trip; manche lagen unter Torbögen, einer quer auf dem Gehweg. Keiner widmete dem Taxi und seinen Insassen mehr als einen flüchtigen Blick. Harry machte die Eingangstür auf, dann trugen er und Byron Swann in den dritten Stock.
Das Büro war ein Zuhause fern von zu Hause: eng und chaotisch. Sie setzten Swann in den Drehstuhl hinter schmutzigen Kaffeetassen und Alimenteforderungen, die sich auf dem Schreibtisch stapelten. Man konnte ihn locker für den gesündesten des Quartetts halten. Byron schwitzte nach dem Treppensteigen wie ein Bulle, Harry fühlte sich – und sah auch gewiß so aus –, als hätte er seit sechzig Tagen nicht mehr geschlafen, und Valentin saß zusammengesunken auf dem Besucherstuhl, so ausgepumpt und apathisch, daß man ihn beinahe für tot hätte halten können.
»Sie sehen schrecklich aus«, sagte Harry zu ihm.
»Macht nichts«, sagte er. »Bald ist es überstanden.«
Harry wandte sich an Byron. »Wie wäre es, wenn Sie Ihren Schwager anrufen?«
Während Byron der Aufforderung nachkam, wandte sich Harry wieder an Valentin. »Ich habe irgendwo einen Erste-
Hilfe-Kasten«, sagte er. »Soll ich Ihnen den Arm verbinden?«
»Danke, nein. Ich kann kein Blut sehen, wie Sie. Besonders nicht mein eigenes.«
Byron schalt seinen Bruder am Telefon. »Was ist los mit dir?
Ich habe einen Kunden für dich! Ich weiß, wie spät es ist, verdammt, aber Geschäft ist Geschäft…«
»Sagen Sie ihm, wir werden das Doppelte seines normalen Honorars zahlen«, sagte Valentin.
»Hast du das gehört, Mel? Das Doppelte deines normalen Honorars. Also komm her, ja?« Er nannte seinem Schwager die Adresse und legte den Hörer auf. »Er kommt vorbei«, verkündete er.
»Jetzt?« fragte Harry.
»Jetzt.« Byron sah auf die Uhr. »Mein Magen denkt bestimmt schon, sie hätten mir die Kehle durchgeschnitten.
Wie wäre es mit etwas zu essen? Hat hier in der Nähe etwas offen?«
»Einen Block von hier entfernt.«
»Möchten Sie auch etwas essen?« wandte sich Byron an Valentin.
»Ich glaube nicht«, sagte er. Er sah mit jedem Augenblick schlimmer aus.
»Okay«, sagte Byron zu Harry. »Dann nur Sie und ich.
Können Sie mir einen Zehner leihen?«
Harry gab ihm den Schein, die Schlüssel der Eingangstür und bestellte Krapfen und Kaffee, und Byron machte sich auf den Weg. Erst als er weg war, wünschte sich Harry, er hätte den Dichter gebeten, seine Hungergefühle noch eine Weile zu unterdrücken. Ohne ihn war das Büro beunruhigend still:
Swann hinter dem Schreibtisch, Valentin auf dem Stuhl, wo er den Kampf gegen den Schlaf verlor. Die Stille erinnerte ihn an eine andere Stille, die in jener letzten, schrecklichen Nacht im Lomax-Haus, als Mimis dämonischer Liebhaber, von Pater Hesse verwundet, sich eine Weile in die Wände geflüchtet hatte und sie warten ließ, wobei sie sicher waren, daß er wiederkommen würde, aber nicht wußten, wann und wie. Sie warteten sechs Stunden lang – gelegentlich brach Mimi das Schweigen mit einem Lachen oder ihrem Geschwätz –, und als erstes Zeichen
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