Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das 9. Urteil

Das 9. Urteil

Titel: Das 9. Urteil Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Patterson
Vom Netzwerk:
gesehen, wie Jim Morley mit seinem Mercedes weggefahren war. Er war untersetzt und muskulös – eine Statur, die sich mit dem Begriff »bullig« umschreiben ließ.
    Am heutigen Abend wollte Sarah ihm bestimmt nicht begegnen. Und das würde sie auch nicht. Die Morleys feierten eine Party im Garten und hatten für sich und ihre Freunde eine eigentlich bereits aufgelöste Rock-and-Roll-Band aus den Sechzigerjahren engagiert. Das erste Set war bereits in vollem Gang, jaulende Elektrogitarren und kreischender Gesang.
    Was für ein fantastischer Lärmschutz.
    Vor einer Viertelstunde hatte einer der Parkwächter das letzte Gästefahrzeug ein Stück weiter unten am Hügel abgestellt und lungerte jetzt zusammen mit seinem Kumpel auf der Straße herum. Sarah konnte ihr gedämpftes Lachen hören und den Zigarettenrauch riechen.
    Sie würde es machen. Sie hatte sich entschlossen. Und es gab keinen besseren Zeitpunkt als jetzt .
    Sarah warf einen Blick hinauf zum Schlafzimmerfenster, holte einmal tief Luft, sprang aus dem schützenden Gebüsch hervor und rannte mit großen Sätzen die sieben Meter bis zur Hauswand. Dort angekommen ging sie genau so vor, wie sie es an der Kletterwand im Fitnesscenter immer wieder geübt hatte. Sie stemmte die Spitze ihres linken Kletterschuhs gegen die Wand, packte mit der rechten Hand die Regenrinne und reckte den linken Arm an den Fenstersims.
    Auf der Hälfte ihrer drei Meter langen Kletterstrecke rutschte ihr linker Fuß ab, und dann hing sie da, mit wild pochendem Herzen, den Körper dicht an die Hauswand gedrückt, die rechte Hand fest um die Regenrinne gekrallt und verzweifelt bemüht, bei alledem nicht die Dachrinne abzureißen und dadurch ein Getöse zu veranstalten, das mit einem lauten Schrei oder einer schwieligen Hand im Nacken enden würde.
    Lass es sein, Sarah. Geh nach Hause.
    Unendliche Sekunden lang hing Sarah an der Wand.
    Ihre Unterarme waren wie Stahlseile. Sie hatte unendlich viele Stunden damit zugebracht, sich nur mit den Händen an die Querstange in ihrer Schranktür zu hängen – nicht nur so lange, bis sie sich beim besten Willen nicht mehr halten konnte, sondern so lange, bis die Muskeln ihren Dienst versagt hatten und sie einfach abgeglitten war. Sie hatte ihre Finger gestärkt, indem sie beim Autofahren, beim Fernsehen, eigentlich in jeder freien Sekunde, einen Gummiball zusammengedrückt hatte. Doch bei aller Kraft und aller Entschlossenheit … da war schließlich auch noch der Mond, der ein wenig Helligkeit verbreitete, und Sarah Wells war nicht unsichtbar.
    Während sie an der Wand baumelte, hörte sie, wie hinter der Hausecke ein Wagen anhielt und ein paar neue Gäste den Weg entlangkamen. Sie wartete, bis sie ins Haus gegangen waren. Dann schien die Luft rein zu sein. Sie streckte die eine Hand aus und ergriff die Profilleiste unterhalb des Fensters. Als sie einen sicheren Griff gefunden hatte, zog sie sich hinauf, bis sie das eine Bein auf das Fensterbrett eines der Schlafzimmerfenster schwingen konnte.
    Sie war drin.

46
    Sarah schlängelte sich über den Fenstersims und ließ sich auf den Teppich fallen.
    Ihr Gehirn badete in einer hochexplosiven Mischung aus Euphorie, Gehetztheit und Angst. Sie sah die Digitaluhr auf dem Nachttisch neben dem riesigen Himmelbett der Morleys und registrierte die Uhrzeit. Es war 21.14 Uhr. Sarah schwor sich, dass sie, wenn die blauen Zahlen auf 21.17 standen, wieder verschwunden sein wollte.
    Aus dem Flur fiel ein wenig Licht in das geräumige Zimmer. Sarah ließ den Blick über die schweren Ahornmöbel aus der barocken Queen-Anne-Periode gleiten, beredtes Zeugnis dafür, dass die Morleys nicht nur mit Sportartikeln Millionen gescheffelt, sondern auch noch geerbt hatten. Neben dem Bett hingen ein paar kleine Ölgemälde, im Schrank stand ein großer Plasmafernseher, und Fotos, auf denen sich der durchweg gut aussehende Morley-Clan auf Segelbooten präsentierte, zierten die Wände – Wände, die jetzt unter dem Ansturm wummernder Rock-and-Roll-Rhythmen erbebten.
    Sarah war startklar. Sie durchquerte das lang gestreckte, mit Teppichen ausgelegte Zimmer, zog die Tür zum Flur ins Schloss und verriegelte sie. Jetzt war es vollkommen dunkel, abgesehen von den blinkenden blauen Zahlen auf der Digitaluhr.
    Sie zeigte 21.15 Uhr.
    Sarah tastete sich an der Wand entlang, gelangte zur Schranktür, machte sie auf und knipste ihre Stirnlampe an. Der zimmergroße Wandschrank war fantastisch, aber sie hatte auch nichts anderes erwartet.

Weitere Kostenlose Bücher