Das 9. Urteil
haltet die Augen offen«, sagte Claire. »Vertraut niemandem. Parkt nicht an einsamen Stellen und geht nur dann zu eurem Auto, wenn andere Leute in der Nähe sind. Und, kein Scherz, besorgt euch einen Waffenschein. Und wenn ihr den habt: Besorgt euch eine Waffe !«
44
Pete Gordon saß in der Küche, den Laptop vor sich auf dem roten Resopaltisch, den Rücken der Terrasse zugewandt, wo Sherry ihrem Bruder irgendwelche dämlichen Puppenkunststücke vorführte. Die Stinkbombe kreischte vor Vergnügen und Angst. Pete konnte das wirklich nicht unterscheiden, weil beides sich so anfühlte, als würde ihm jemand mit einem Schraubenzieher das Trommelfell durchstechen.
Pete brüllte über die Schulter: »Seid leise, Sherry! Noch eine Minute, dann hol ich den Gürtel raus.«
»Wir sind leise, Daddy.«
Gordon wandte sich wieder dem Brief zu, den er gerade verfasste, eine Art Lösegeldforderung. Ja, genau. So wollte er das sehen. Er war ein ziemlich guter Schriftsteller, aber sein Schreiben musste absolut unmissverständlich sein, ohne den geringsten Hinweis auf seine Identität.
»Offener Brief an die Bürger von San Francisco«, schrieb er. »Ich muss euch etwas Wichtiges mitteilen.«
Er dachte über das Wort »Bürger« nach. Es klang irgendwie zu förmlich, und er ersetzte es durch »Einwohner«. Viel besser.
»Offener Brief an die Einwohner von San Francisco.« Dann änderte er die zweite Zeile. »Ich möchte euch einen Vorschlag machen.« Plötzlich ertönte ein schriller Schrei auf der Terrasse. Sherry machte pschscht zur Stinkbombe und rief dann zum Fenster herein: »Daddy, Entschuldigung, bitte, nicht wütend werden. Stevie hat es nicht so gemeint.«
Das Kleinkind heulte jetzt bei jedem Einatmen und bei jedem Ausatmen, ab-so-lut erbarmungslos. Pete ballte die Hände zu Fäusten und dachte, wie sehr er sie und sein ganzes jetziges Leben hasste. Meine Damen und Herren, seht ihn euch an, Captain Pete Gordon, ehemaliger Elitesoldat, im Augenblick Hausmann erster Klasse.
So eine gottverdammte Tragödie.
Das Einzige, was ihm noch Freude bereitete, das war die Arbeit an seinem Plan. Wenn er daran dachte, mit welchem Genuss er, nachdem er Sherry und die Stinkbombe kaltgemacht hatte, der Prinzessin offenbaren würde, wer er wirklich war. Er konnte es kaum erwarten, ihre ewige Nörgelei abzustellen. Pete, Süßer, vergiss nicht, Milch zu holen und deine Medizin zu nehmen, okay? Hey, Hübscher, hast du an das Essen für die Kinder gedacht? Das Bett gemacht? Den Fernsehmonteur angerufen?
Er stellte sich Heidis Gesicht vor, blass und von ihrer roten Mähne umrahmt, die Augen so groß wie Jojos, wenn ihr klar wurde, was er getan hatte. Und was er ihr antun würde.
Hi hi Heidi. Bye-bye, o wei.
Dritter Teil
Die Falle
45
Sarah Wells kauerte im Gebüsch zwischen dem riesigen Haus im Tudor-Stil und der Straße. Durch ihre Kleidung wurde sie eins mit dem Schatten. Gerade gingen ihr außergewöhnlich plastische Bilder von ihrem Dowling-Raubzug durch den Kopf – wie sie sich im Schrank versteckt hatte, während die Dowlings sich geliebt hatten, wie sie später dieses Tischchen mit dem ganzen Krimskrams umgestoßen hatte und nur mit knapper Not entkommen war. Und dann das Schlimmste überhaupt – die Mordanklage, die nun wie ein Damoklesschwert über ihrem Kopf schwebte.
Sie überlegte, ob sie aufhören sollte, solange sie noch das Heft des Handelns in der Hand hielt. Andererseits … das Haus der Morleys war etwas ganz Besonderes.
Die dreigeschossige, weiße Villa mit den dunklen Dachbalken und den Fenstererkern gehörte Jim und Dorian Morley, die eine an der ganzen Küste verbreitete Ladenkette für Sportartikel besaßen. Sie hatte alles über die beiden gelesen, was es im Internet gab, und sich Dutzende Fotos angesehen. Dorian Morley trug auffallende Kleider und besaß eine atemberaubende Schmuckkollektion, die sie ständig in Gebrauch hatte.
Ein Satz, den Mrs. Morley gegenüber einem Reporter des Chronicle geäußert hatte, war Sarah besonders im Gedächtnis geblieben: dass sie es nämlich unendlich genoss, Diamanten zu tragen, tagtäglich, »auch zu Hause«.
Stell dir das mal vor. Alltagsdiamanten.
Das war der Grund, warum Sarah die Morleys auf ihre Liste gesetzt, etliche Male das Verkehrsaufkommen in der Nachbarschaft gegen neun Uhr abends ausgekundschaftet und sich genau überlegt hatte, wo sie ihren Wagen stehen lassen und wo sie sich verstecken konnte. Bei einer ihrer Stippvisiten Anfang der Woche hatte sie
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