Das achte Opfer
angehören, Judith. Jeder, der ihr angehört, liebt die Gefahr. Es hat etwas Prickelndes, Aufregendes, findest du nicht? Man hat Macht über Leben und Tod, man hat Geld im Überfluß, man braucht sich um nichts mehr Sorgen zu machen – außer um das eigene Leben vielleicht.«
Sie sah ihn fragend an. »Was meinst du damit?«
»Der Killer zum Beispiel. Solange er nicht gefaßt ist, ist keiner von uns sicher. Da wirst du mir zustimmen müssen.«
»Sicher …«
»Eine Frage – was bedeuten dir Kinder?«
»Ich weiß zwar nicht, was diese Frage soll, aber ich habe keine, und ich mache mir nichts aus ihnen. Mein Leben verläuft ruhiger ohne sie.«
»Und doch hast du das Leben von vielen Kindern zerstört oder zumindest zerstören helfen. Wie kannst du damit leben?« Er setzte sich auf, den Kopf in die Hände gestützt. »Wie kannst du damit leben, unschuldige Geschöpfe ihrer Seele und zum Teil auch ihres Körpers beraubt zu haben? Wie kannst du damit leben, die schlimmsten Verbrechen nicht nur zu decken, sondern sie auch noch zu unterstützen? Wie? Ist es dir scheißegal, ob ein Kind verreckt, weil durch und durch verkommene Kreaturen es so wollen? Hast du dir jemals Gedanken gemacht, was in einem Kind vorgeht,das auf die schändlichste Weise mißbraucht und mißhandelt wird? Hast du jemals darüber nachgedacht, was aus diesen Kindern wird, wenn sie größer sind? Sie werden Alkoholiker oder gehen auf den Strich oder nehmen Rauschgift. Und genau das ist es schließlich, woran die Organisation verdient – erst beraubt man die Kinder des Wertvollsten, was sie besitzen, ihrer Seele, dann verdient man an ihnen, indem man ihnen Heroin oder Kokain oder was immer verkauft. Man verdient an ihnen, wenn sie in Bordellen oder auf dem Straßenstrich anschaffen gehen, oder man verdient an ihnen, indem man scheußliche Bilder und Filme von ihnen macht, an denen schmierige Kerle und Weiber sich aufgeilen. Auf Videos, in widerlichen Heften oder sogar im Internet. Es ist ein widerwärtiges Geschäft, und jeder, der damit zu tun hat, hat in meinen Augen das Recht verspielt weiterzuleben. Oder siehst du das anders?«
Sie war aufgestanden, sie war bis auf die Strümpfe nackt, ihre Augen waren groß und voller Angst. Sie stand mit dem Rücken am Schrank, ihr Körper zitterte. »Warum sagst du das alles? Du bist ein Teil der Organisation! Mach mir um Himmels willen nicht weis, du wärst unschuldig. Du hängst genauso mit drin wie wir alle. Aber du solltest wissen, diese Organisation ist nicht mehr aufzuhalten. Sie ist wie ein Zug, der immer schneller talabwärts fährt und der nicht gestoppt werden kann.«
»Ich kenne dein Geheimnis, über das du vorhin nicht sprechen wolltest. Aber eines Tages wirst du darüber sprechen …«
Sie lachte schrill auf und sagte: »Niemals! Ich werde mit niemandem darüber sprechen!«
»O doch, ich glaube, es gibt eine Macht, die größer und gerechter ist als jede weltliche Macht. Und ihr wirst du Rede und Antwort stehen müssen. Und wie sagtest du so schön –wenn es eine Hölle gibt, werden du und ich darin schmoren. Aber bis es soweit ist, willst du dein Leben genießen. Aber kann man sein Leben genießen, wenn man über Leichen geht? Kannst du das? Ich habe so viele hübsche, junge Frauen kennengelernt, die aus dem Osten nach Deutschland geschleust wurden, denen man Versprechungen machte, in was für ein Schlaraffenland sie hier geraten würden . . .«
»Na und? Die Menschen waren immer so. Die einen machen Versprechungen, die anderen fallen darauf herein. Es ist das Gesetz des Lebens. Fressen und gefressen werden.«
»Es ist das Gesetz, das im Tierreich gilt«, sagte er. »Ich dachte lange Jahre, wir würden uns von den Tieren unterscheiden. Aber das ist wohl nur in wenigen Fällen so. Es gibt nicht mehr viele gute Menschen.« Er stand auf, ging an den Marmortisch, nahm sein Glas Cognac und leerte es. Die Flüssigkeit brannte in seinem Magen, er starrte einen Moment auf das Glas, bevor er es zurückstellte. Er drehte sich um, sah sie an. Sie hatte sich nicht von der Stelle bewegt, stand noch immer nackt an den Schrank gelehnt. Einige Sekunden lang herrschte Schweigen.
»Warum hast du mir das alles gesagt?« fragte sie, den Kopf leicht zur Seite geneigt.
»Warum?« fragte er mit versonnenem Blick. »Kannst du dir das nicht denken? Glaubst du im Ernst, ich hätte dich gern gefickt? Glaubst du wirklich, ich habe meine Frau gern betrogen? Du bist so verdorben und so voller Gier, du nimmst dir
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