Das achte Opfer
ich habe keine Angst, umgebracht zu werden«, sagte Natascha kopfschüttelnd. »Ich habe auch keine Angst mehr vor Igor oder diesem Rick, der ein noch größeres Schwein ist, oder Charly, der immer im weißen Anzug rumläuft und freundlich lächelt, in Wirklichkeit aber der Teufel in Person ist. Nein, ich habe keine Angst um mein Leben – ich habe Angst um das Leben meiner Tochter.«
Julia Durant neigte den Kopf ein wenig zur Seite und fragte leise: »Ihre Tochter? Ich wußte bis jetzt nicht, daß Sie eine haben. Wo ist sie? Und vor allem, wie alt ist sie?«
Natascha schluckte schwer, ein paar Tränen liefen aus ihren Augenwinkeln, sie nahm einen hastigen Zug an der Zigarette.
»Meine Tochter heißt Katharina, sie ist zwölf Jahre alt.« Sie zuckte mit den Schultern, schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht, wo sie ist, sie haben sie mir weggenommen, als wir auf diesem Hof ankamen . . .«
»Ihre Tochter ist mit nach Deutschland gekommen?! . . . Aber ich habe Sie unterbrochen. Bitte, fahren Sie fort.«
»Wir Frauen kamen in das eine Haus, die Kinder in das andere. Ich habe meine Tochter seit dem Tag nicht mehr gesehen. Ich weiß nicht einmal, ob sie noch lebt. Verstehen Sie mich, ich habe Angst um sie! Als wir noch in diesemHaus waren, hat Rick oft damit gedroht, meine Tochter umzubringen, wenn ich nicht genau das täte, was von mir verlangt wurde. Ich war froh, als ich nach einem halben Jahr nach Frankfurt gebracht wurde. Aber ich war auch traurig, daß meine Tochter nicht mitkommen konnte. Wenn ich nur wüßte, wo sie ist, ob es ihr gutgeht, ob sie überhaupt noch lebt.«
»Sie haben vorhin von einer Organisation gesprochen. Um was für eine Organisation handelt es sich dabei? Und wer ist der Anführer?«
»Ich weiß nur, es ist
die
Organisation. Sie bringen Frauen und Kinder aus Osteuropa nach Deutschland. Aber wer ihr Anführer ist, kann ich nicht sagen.«
»Sie erwähnten die Namen Igor, Rick und Charly. Können Sie die Männer beschreiben? Und haben Sie noch mehr Namen?«
»Nur einen, Maria. Sie ist so etwas wie die Empfangsdame. Vielleicht fünfzig Jahre alt, dunkelhaarig, sehr gepflegt und sehr kalt und brutal. Igor hat sehr kurze, blonde Haare, große, abstehende Ohren, er ist etwa einsneunzig groß und sehr muskulös. Rick hat fast schwarze Haare, trägt immer eine schwarze Lederhose und Lederjacke und ist so etwas wie der Beschützer der Frauen.« Sie lachte auf. »Aber er ist ein Teufel, denn er fickt gern und wer sich ihm verweigert, wird verprügelt. Charly kam nur ab und zu vorbei, ich glaube, er gehört zu den Köpfen der Organisation. Er ist nicht sehr groß, dunkelblond, graublaue Augen, und ich glaube, er ist sehr reich. Ich kann inzwischen unterscheiden, wer reich ist und wer nicht. Charly ist reich.«
»Aber das ist sicher nicht sein richtiger Name, oder?«
»Nein, bestimmt nicht. Auch Rick heißt in Wirklichkeit nicht Rick, genau wie Igor oder Maria.«
»Wie sieht es mit Drogen aus?«
»Wissen Sie, sie bringen die Mädchen und Frauen her und schicken sie nach einem oder zwei Jahren wieder zurück. Manche bleiben ein Jahr, manche auch länger. Manche sterben auch, bevor sie wieder zurückgeschickt werden, sie sterben an Drogen oder Alkohol, weil sie es hier nicht mehr aushalten.«
»Und was geschieht mit den Kindern? Wissen Sie, wie viele Kinder in dem anderen Haus sind?«
Natascha starrte für einen Moment auf irgendeinen imaginären Punkt an der Wand. »Wie viele? Keine Ahnung. Aber ich habe gehört . . .« Sie stockte, ihre Mundwinkel begannen zu beben, sie schluchzte. Tatjana beugte sich zu ihr, nahm sie in den Arm. Sie sagte einige beruhigende Worte auf russisch zu ihr, doch Natascha hörte nicht auf zu weinen. Schließlich wurde sie von einem regelrechten Weinkrampf geschüttelt.
Tatjana sagte: »Natascha wollte sagen, daß die Kinder auch zur Prostitution gezwungen werden. Es sind Kinder, nur Kinder, man sagt, das jüngste ist gerade einmal sechs Jahre alt, das älteste vierzehn. Aber es gibt Menschen, denen ist es egal, ob sie ihre verdammten Schwänze in Kinder stecken und ihnen schrecklich weh tun. Sie bezahlen eine Menge Geld dafür, es mit Kindern treiben zu dürfen. Sollen sie doch zu uns kommen, wir sind Frauen . . . aber es sind Kinder – unsere Kinder.«
»Haben Sie auch ein Kind hier in Deutschland?« fragte die Kommissarin. Tatjana nickte.
»Ja, einen Sohn, er ist sieben Jahre alt, er heißt Boris.«
Allmählich beruhigte sich Natascha, bat um ein Taschentuch,
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