Das achte Opfer
um ihre Tränen abzuwischen.
»Können Sie mir irgend etwas über die Organisation sagen?«
»Nicht viel«, sagte Tatjana leise, »es wird nur getuschelt.
Sie sagen, daß es eine Organisation ist, die über die ganze Welt verteilt ist. Und daß sehr mächtige Männer und Frauen an der Spitze stehen. Sehr, sehr mächtige Männer und Frauen! Und wer sich der Organisation in den Weg stellt, wird getötet.« Sie machte eine Pause, während der sie sich zurücklehnte, die Beine übereinanderschlug und Julia Durant aus ihren großen, blauen Augen, die jetzt, nach der Anspannung, leer wirkten, ansah. Sie fuhr fort: »Glauben Sie, daß Sie uns helfen können?«
Die Kommissarin ließ sich mit der Antwort Zeit. Sie überlegte, fuhr sich mit dem Zeigefinger über die Lippen. »Wie stellen Sie sich diese Hilfe vor? Wenn wir Ihnen jetzt Schutz bieten, dann sind unter Umständen Ihre Kinder in Gefahr. Wir müssen eine andere Möglichkeit finden. Am besten gehen Sie jetzt wieder nach draußen zu den anderen Frauen. Sprechen Sie so wenig wie möglich mit ihnen. Im Augenblick sehe ich nur eine Lösung – und die ist, daß wir Ihre Kolleginnen wieder in ihre Häuser zurückschicken, Sie aber noch hierbehalten, weil wir noch einige Fragen haben. Dann bringen wir Sie in einem sicheren Versteck unter.
Sie werden von uns eine neue Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis erhalten und sich mit einer Dame unterhalten, die vor einiger Zeit in einer ähnlichen Situation war und auch durch uns den Absprung geschafft hat. Sie arbeitet jetzt als Informantin für uns. Ich glaube, es wäre gut, wenn Sie mit ihr zusammenarbeiten würden. Was halten Sie von meinem Vorschlag?«
»Es hört sich auf jeden Fall besser an, als ins Bordell zurückzugehen . . . Aber was ist mit unseren Kindern?«
»Erinnern Sie sich, wie lange die Fahrt von diesem, sagen wir Bauernhof, hierher nach Frankfurt gedauert hat?«
Natascha überlegte krampfhaft. »Vielleicht eine, vielleicht auch anderthalb Stunden.«
»Sind Sie am Vormittag oder Nachmittag oder sind Sie nachts gefahren?«
»Es war Tag.«
»Und die Uhrzeit etwa?«
»Zehn Uhr, vielleicht auch halb elf.«
»Hat die Sonne geschienen?«
»Ja.«
»Können Sie ungefähr sagen, aus welcher Himmelsrichtung Sie gekommen sind? Oder haben Sie irgendwelche Ortsschilder gesehen, deren Namen Sie vielleicht behalten haben?«
»Ortsschilder? Nein, ich kann mich nicht erinnern. Aber ich glaube, es muß nördlich von Frankfurt gewesen sein, denn wir fuhren immer in die Sonne hinein.«
»Und welcher Monat war?«
»Oktober, Anfang Oktober.«
»Gut, das war’s fürs erste. Wir werden alles tun, um Ihnen zu helfen, vor allem werden wir versuchen, diesen Bauernhof ausfindig zu machen. Wir werden Sie auch bitten müssen, sich einige Fotos aus unserer Verbrecherkartei anzusehen, vielleicht haben wir ja Glück, und Sie finden ein bekanntes Gesicht darunter. Aber jetzt gehen Sie erst einmal wieder zu den anderen Frauen zurück, ich möchte nicht, daß irgendwer mißtrauisch wird.«
»Und Sie versprechen uns, keinem Menschen etwas zu verraten von dem, was wir gesagt haben?« fragte Tatjana ängstlich.
»Ich verspreche es. Machen Sie’s gut. Wir sehen uns bald wieder.«
Tatjana und Natascha standen auf, doch bevor sie das Büro zusammen mit Julia Durant verließen, sagte Tatjana leise: »Wenn Sie uns helfen, dann haben wir auch noch einige interessante Informationen für Sie. Sehr interessante Informationen.«
»Wovon sprechen Sie?«
»Es ist spät, und wir sind sehr müde«, sagte Tatjana. »Es würde zu lange dauern, und es eilt auch nicht so sehr.«
»Wenn Sie meinen. Aber wenn es sich um wirklich wichtige Infos handelt, dann sollten Sie nicht zu lange damit warten.«
Sie gingen hinüber in das Büro von Schnell, Natascha und Tatjana warfen ihm erneut diesen undefinierbaren Blick zu, während Julia Durant vor ihm stehenblieb. Schnell sah sie von unten herauf an.
»Und, interessante Neuigkeiten?« fragte er.
»Ich denke schon. Hier geht es offensichtlich um mehr als nur einfache Prostitution. Es sind auch Kinder im Spiel. Die eine hat einen siebenjährigen Sohn, der ihr weggenommen wurde, und die andere eine zwölfjährige Tochter. Sie haben sie beide, seit sie hier in Deutschland sind, nicht wiedergesehen. Und wie es scheint, steckt eine uns bislang unbekannte Organisation dahinter. Ich habe den beiden Schutz zugesagt, denn sie haben Angst um ihre Kinder. Ich hoffe, das war in Ihrem Sinn. Und sie sagen, sie hätten
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