Das achte Tor
und holte zu einem mächtigen Schlag aus.
Seine Krallen schlitzten Nathans Parka auf, einen Millimeter neben der Wirbelsäule.
Nathan stieß einen leisen Fluch aus und versuchte vergeblich, sein Tempo zu erhöhen.
Plötzlich tat sich vor ihm eine Lichtung auf, die der Vollmond in einem märchenhaft silbernen Licht erstrah-len ließ. Mittendrin erhob sich ein riesiger schneebedeck-ter Felsen.
Und dort saß der Bär, noch größer, als Nathan ihn sich vorgestellt hatte. Ein Berg aus Pelz und Muskeln.
Als das Tier vernahm, wie die beiden Eindringlinge auf ihn zustürmten, drehte es sich behände um und stellte sich auf die Hinterbeine.
Nathan stand vor ihm.
Der Bär gab ein wildes Brummen von sich. Eine Warnung, die kein überlebenswilliges Wesen ignorieren sollte. Nathan warf sich bäuchlings in den Schnee und rührte sich nicht. Der Werwolf, der ihn verfolgte, prallte mit voller Wucht gegen den Bären.
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Nun gab es mehrere Möglichkeiten: Der Lykanthrop konnte sich zurückziehen, fliehen oder sich, wie Nathan, unterwerfen.
Er zog es vor anzugreifen.
Seine Kiefer gruben sich in die Schulter des Sohlengängers und suchten seine Halsschlagader. Sie zu durch-trennen würde den Sieg bedeuten.
Die Pranke des Bären traf ihn unters Kinn und riss ihm den halben Kopf weg. Dem Werwolf war es jedoch nicht vergönnt, zusammenzubrechen. Der Herr des Waldes war wie entfesselt und schleuderte ihn in die Luft. Er fing ihn wieder auf wie eine Stoffpuppe und zerriss ihn dann in Stücke. Als er sein Werk beendet hatte, war von dem Werwolf nur noch ein unförmiger Brei übrig, verstreut in einem Umkreis von zehn Metern.
Nathan entfernte sich vorsichtig, zunächst kriechend, dann auf allen vieren. Er stand erst auf, als er die Bäume erreicht hatte. Noch einen Moment lang betrachtete er das schreckliche Gemetzel, bevor er tief Luft holte. Mit bedächtigen Schritten ging er zum Chalet zurück.
Unter der Vielzahl der Gedanken, die ihm durch den Kopf schossen, nahm einer Gestalt an und wurde zur Gewissheit. Glasklar und erfreulich:
Ein Bär ist keine konventionelle Waffe!
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er holografische Würfel funktionierte nicht mehr.
D Kein Wunder, bei dem Schlag, den er abbekom-men hatte. Dennoch konnte Nathan einen Anflug von schlechter Laune nicht unterdrücken. Er hatte gehofft, die Aufzeichnung von der Stelle an, wo sie unterbrochen worden war, weiter abhören zu können. Falls sein Vater vorgehabt hatte, ihm weitere Dinge mitzuteilen, dann gab es jetzt keinerlei Möglichkeit mehr, sie zu erfahren.
Während er im Schrank vergeblich nach einem neuen Parka suchte, überkam ihn plötzlich eine bleierne Mü-
digkeit. Er unterdrückte ein Gähnen und sah auf die Uhr.
Sieben Uhr morgens! Bald würde der Tag anbrechen, und er hatte nur zwei Stündchen geschlafen, bevor sich sein Leben schlagartig veränderte.
Der Tod seiner Eltern durch eine verbrecherische Explosion; die Nachrichten seines Vaters, die ebenso rätselhaft wie beunruhigend waren; seine Zugehörigkeit zu einer mysteriösen Familie; der Angriff einer eigentlich nicht existenten Kreatur – genügend Gründe für einen Zusammenbruch. Dennoch packte ihn nicht die Angst, und trotz der Erschöpfung hielt er sich ohne größere Schwierigkeiten auf den Beinen.
Er zog kurz in Erwägung, eine Ruhepause einzulegen, die er vor seinem Aufbruch schon dringend nötig gehabt 63
hätte, doch der Gedanke an einen weiteren Werwolf hielt ihn davon ab. Man brauchte kein Hellseher zu sein, um zu verstehen, dass es zwischen dem Erscheinen dieses Monsters und dem Attentat auf seine Eltern einen Zu-sammenhang gab. Nathan befand sich in Gefahr und konnte nicht immer mit einem Bären rechnen, der ihm aus der Patsche half. Er musste die Ratschläge seines Vaters befolgen, ein Flugzeug nehmen und aus Quebec nach Frankreich fliehen. So schnell wie möglich.
Er weigerte sich, seiner Ermattung nachzugeben, und verließ das Chalet.
Den See mit dem Kanu zu überqueren überstieg fast seine Kräfte, aber einmal mehr gelang es ihm durch eine erstaunliche Willensanstrengung, über sich hinauszu-wachsen. Auf sein Paddel gestützt, dachte er über diese Willenskraft nach. Dieser Wille, der die Menschen in seiner Umgebung so oft erstaunt hatte. Er dachte so objektiv wie möglich darüber nach.
Sein Wille.
Durch ihn unterschied er sich von gleichaltrigen Jugendlichen, aber auch durch seine physischen und intellektuellen Fähigkeiten, die durch die Erziehung seiner Eltern im Laufe der Jahre
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