Das achte Tor
dem Tod seiner Eltern erzählte? Wie kann es einen völlig kaltlassen, wenn man erfährt, dass es Werwölfe gibt?
Gedankenverloren hätte er fast die Kurve der Ausfahrt nicht geschafft, erst auf dem Seitenstreifen erlangte er wieder die Kontrolle über den Clio. Der Volvo der Helluren war immer noch dicht hinter ihnen. Nathan und Shaé fuhren jetzt über eine Landstraße, die über die Dörfer führte.
»Hier kenne ich mich aus«, verkündete sie. »Als ich klein war, war ich oft hier.«
»Glaubst du, wir können sie abhängen?«
»Keine Ahnung. Aber ich kenne jemanden, der uns helfen kann.«
»Ich habe dir doch gesagt, dass wir niemanden um Hilfe bitten dürfen«, regte sich Nathan auf. »Nicht einmal dir hätte ich verraten dürfen, was ich weiß.«
»Ist dir lieber, wenn uns deine Helluren schnappen und uns umbringen? Ich nehme an, wenn du vor ihnen 95
fliehst, bist du nicht in der Lage, sie so einfach fertigzumachen, wie du die vier Typen vorhin fertiggemacht hast. Stimmt’s? Bieg hier rechts ab.«
Leise fluchend befolgte Nathan die Anweisung.
Shaé lächelte. Seit sie diesen Wagen bestiegen hatte, hatte sie nicht einmal Angst gehabt. Im Gegenteil. Es bewegte sich etwas in ihrem Leben. Mehr noch, Nathans Enthüllungen warfen ein neues Licht auf die mysteriösen Schattenzonen, die sich in ihrem Innern verbargen.
Ihr wurde bewusst, dass sie seit Beginn der Verfolgungsjagd keinen Durst mehr verspürt hatte.
»Links ab und nach hundert Metern wieder nach links.«
Sie verließen die Bundesstraße und fuhren nun über eine kleine Landstraße, die sich durch die Weingärten schlängelte. Schwer vorstellbar, weniger als eine Stunde von einem internationalen Flughafen entfernt und einer Stadt wie Marseille, die über achthunderttausend Ein-wohner zählte.
Am Eingang einer völlig unübersichtlichen Kurve überholte Nathan ein Auto und betete, dass ihm keiner entgegenkam. Der Volvo folgte ihm ohne zu zögern.
Nathan schimpfte wieder. Jeden Moment konnte ihn ein Traktor, ein LKW oder irgendein langsames Fahrzeug aufhalten. Wusste Shaé tatsächlich, was sie tat?
Als hätte sie seine Gedanken gelesen, zeigte sie auf die Spitze eines Hügels.
»Dahinten.«
»Ich will niemanden um Hilfe bitten!«
Nathan sagte das mit allem Nachdruck.
»Du musst niemanden bitten. Bieg rechts ab. Jetzt!«
Der Clio quälte sich über einen Feldweg, so schmal, 96
dass er kaum durchkam, und wühlte hinter sich eine Wolke aus Staub und Splitt auf.
»Wo ist denn …«
Nathan trat auf die Bremse, schleuderte den Wagen um hundertachtzig Grad herum und kam einige Zentimeter vor einer Steinmauer zum Stehen.
Hier endete der Weg.
»Wir hängen fest«, keuchte er. »Was machen wir?«
Shaé öffnete die Tür und sprang hinaus.
»Laufen!«
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ieso hatte er sich eigentlich eingebildet, Helluren W könnten nicht laufen?
Höchstwahrscheinlich wegen ihrer Anzüge und sicher auch, weil sie sich sowohl in Montreal als auch vorhin auf dem Parkplatz unbeholfen bewegt hatten. Aber das war lächerlich. Und falsch. Diese Typen waren zu ihrem Auto gelaufen, sie waren losgerannt, um sich Shaé zu schnappen, und jetzt rannten sie hinter ihnen her.
Und zwar schnell.
Nathan warf einen besorgten Blick hinüber zu Shaé, die vor ihm einige Mühe hatte. Der Weg stieg an, und bei diesem Tempo keuchte sie schon wie ein Hund. Er hätte sie leicht überholen und seine Verfolger abhängen können, aber er hatte Angst, sie könnte zusammenbre-chen. Die fünf Helluren würden sie in weniger als zehn Sekunden eingeholt haben. Wenn er von ihrem ersten Angriff her nicht wüsste, dass sie es auch auf Shaé abgesehen hatten, würde sich Nathan jetzt davonmachen.
Aber so, wie die Dinge lagen, war das unmöglich.
Durch den Mistral strahlte der Morgenhimmel blau, beinahe violett. Ganz hoch, über ihren Köpfen, schwebte ein Raubvogel, vielleicht ein Habicht.
Nathan drehte sich um. Die Helluren klebten ihnen an den Fersen. Der Abstand war von anfänglich einhundert auf weniger als vierzig Meter geschrumpft. Man musste 98
eine Möglichkeit finden, sie abzuschütteln oder wenigstens zu stoppen. Unverzüglich. Denn auch wenn Nathan mit seinen Fähigkeiten keine Schlägerei scheute, um Shaé zu helfen, machte er sich dennoch keine Illusionen über den Ausgang einer Auseinandersetzung mit solchen Gegnern.
»Die Helluren verfügen in ihrer physischen Erscheinung über unvergleichliche Kräfte. Der Ritter, der im Turnier von Camelford den für seine
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