Das achte Tor
Säugetieren gehörten, und diese charakteristische Silhouette, die er so oft in Tansania beobachtet hatte. Er wusste, dass das Tier, das ihm gegenüberstand, trotz seines Rufs als Aasfresser ein starker, ausdauernder und listiger Jäger war.
Ein Killer.
Er wusste jedoch nicht, welches Wunder dafür gesorgt hatte, dass neben ihm nicht mehr Shaé, sondern eine schwarze, sechzig Kilogramm schwere Hyäne stand.
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Aber das war jetzt auch nicht mehr wichtig. Weil er gleich tot sein würde.
Die Hyäne kam näher.
Nathan schloss die Augen.
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ine Weile herrschte Stille in der Hütte. Nur das tiefe E rhythmische Keuchen der Hyäne war zu hören.
Eine angstvolle, tödliche Stille.
Nathan war zu schockiert und kraftlos, um zu reagie-ren. Er wartete auf den schrecklichen Augenblick, in dem sich die Kiefer des Tieres in ihm festbeißen würden. Er spürte, wie das Blut aus seiner Wunde in seinen Parka quoll und an seinem Oberkörper herablief.
Er amüsierte sich darüber. Zum ersten Mal in seinem Leben war er resigniert.
Der Atem der Hyäne, seltsamerweise ohne die üblichen pestartigen Ausdünstungen, strich ihm übers Gesicht.
Nathan zitterte.
Das Beben erfasste ihn am ganzen Körper, gefolgt von einer Welle schmerzhaften Brechreizes. Er war kurz davor, in Ohnmacht zu fallen, als sich der Atem der Hyäne veränderte.
Zunächst kaum wahrnehmbar. Und eine ganze Weile später dann deutlich spürbar.
Aus dem dumpfen Grollen in ihrer Brust wurde ein Stöhnen. Ein Schluchzen.
Nathan öffnete die Augen.
Shaé lag zusammengerollt zu seinen Füßen und wim-merte leise. Das erste Gefühl, das Nathan empfand, war Erleichterung. Er lebte.
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Das zweite war die Ungewissheit. Shaé, was auch immer ihre wahre Natur sei, befand sich in einem bemitlei-denswerten Zustand.
Das dritte, das alle anderen überlagerte, war der Schmerz. Seine Schulter tat so entsetzlich weh, dass er den Arm nicht mehr bewegen konnte, und sein Schädel schien wie in einen Schraubstock gespannt. Er hatte das Bedürfnis, sich zu übergeben.
Unter allergrößter Anstrengung streckte er die Hand nach Shaé aus, um ihr Haar zu berühren.
»Fass mich nicht an.«
Die Stimme klang brüchig und kaum menschlich, und die Augen, die sich auf Nathan richteten, waren die eines Raubtiers.
»Fass mich nicht an, bloß nicht!«
Nathans Hand sank kraftlos wieder herab. Er konnte im Mondlicht gerade noch sehen, wie eine Träne über Shaés Wange lief, dann wurde er ohnmächtig.
***
Es dauerte eine ganze Weile, bis er das Bewusstsein wie-dererlangte. Ein eisiger Luftzug zog durch die weit offen stehende Tür der Hütte. Er war allein.
Seine Schulter war komplett bandagiert und blutete nicht mehr. Doch als er aufstehen wollte, schoss der Schmerz wieder so heftig ein, dass er aufschrie.
Er schloss die Augen.
»Nat.«
Die Stimme drang durch Nathans wirren schläfrigen Nebel.
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»Nathan, wir müssen los.«
Shaé stand mit bekümmerter Miene neben ihm. Es war Tag.
»Wir müssen los, Nat. Da kommen Leute.«
Nathan setzte sich auf. Das Blut pochte heftig und schmerzhaft gegen seine Schläfen, und er glühte vor Fieber. Seine Augen wanderten zu Shaé, über ihre aufra-gende Silhouette, ihr wohlgeformtes ovales Gesicht …
Jetzt nicht an die Hyäne denken, später …
»Polizisten?«
»Helluren. Sechs. Sie sind noch weit genug weg, aber sie kommen näher.«
Nathan konnte sich nur mit Mühe erheben, und sie machte keinerlei Anstalten, ihm zu helfen. Als er stand, war er trotz seines Schwindelgefühls sicher, dass er laufen konnte. Er fröstelte. Shaé hatte seinen Parka zerrissen, um seine Wunde zu verbinden. Und auch wenn sie ihn im Schlaf noch damit zugedeckt hatte, anziehen konnte man ihn nicht mehr.
Sie verließen die Hütte und liefen in einen Pinienwald, Richtung Süden. Es war noch früh am Morgen, ein klarer und eisiger Novembertag. Die Luft duftete nach aromati-schen Pflanzen und frischer Erde. Die ersten Schritte waren schwierig für Nathan, aber dann fühlte er sich kontinuierlich besser. Auch wenn er wusste, dass seine Verletzung möglichst bald von einem Arzt behandelt werden müsste und dass ihn ein Fieberschub jeden Augenblick zu Boden werfen konnte, fand er doch die Kraft, vor den Helluren zu fliehen.
Das war das Wichtigste.
Shaé lief gedankenversunken neben ihm. Heute Nacht 117
hatte das Etwas die Herrschaft übernommen. Vollständig. Zwar hatte sie den Werwolf in die Flucht geschlagen, aber beinahe hätte sie auch
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