Das achte Tor
Nathan die Kehle durchge-bissen. Shaé hatte die Handlungen ihres eigenen Körpers wie ein ohnmächtiger Zuschauer verfolgt und ihn erst in letzter Sekunde wieder zähmen können.
In allerletzter Sekunde!
Eine Gewissheit keimte in ihr auf: das nächste Mal würde sie den Kampf verlieren. Das Etwas war zu stark.
Sie, Shaé, war dazu verdammt, ein blutrünstiges wildes Tier zu werden.
Nathan lief neben ihr und kam nur mühsam voran. Er biss die Zähne zusammen. Nathan war anders. So anders, dass sie sich sogar einreden wollte, er könnte ihr helfen.
Doch sie musste zugeben, dass es eine Illusion war.
Niemand konnte ihr helfen.
Daher war sie umso überraschter, als sie sich reden hör-te. Dunkle und beunruhigende Worte, Bilder aus ihrem Kopf, doch es waren echte Worte, Worte, von denen sie niemals geglaubt hätte, dass sie ihr über die Lippen kämen.
»Nat, glaubst du, ich bin ein Monster?«
Er blieb stehen und beobachtete sie aufmerksam. Er war sich der Wirkung bewusst, die seine Antwort auf ihr Gleichgewicht haben würde. Und auf ihr Leben. Er wartete, bis sie seinen Blick akzeptierte und ihn erwiderte.
Dann sagte er voller Überzeugung:
»Nein, Shaé. Du bist kein Monster!«
Ein Hoffnungsschimmer leuchtete in ihren Augen auf.
Und erlosch sogleich wieder.
»Aber du hast mich doch letzte Nacht gesehen! Was unterscheidet mich denn von einem Werwolf?«
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»Eine ganze Menge. Du hast uns das Leben gerettet!«
Shaé brach in ein freudloses Gelächter aus.
»Das Etwas hat sich verteidigt, das ist alles. Wenn es die Macht über mich behalten hätte, wärst du jetzt tot.
Garantiert.«
Nathan spürte die Verzweiflung in Shaés Stimme. Man musste ihr klarmachen, dass sie auf dem Holzweg war.
Obwohl auch er seine Zweifel hatte.
»Aber es hat nicht die Macht behalten! Du bist du selbst, Shaé, kein Etwas oder ein Monster. Du bist du und kannst so bleiben. Du kannst dich außerdem auf mich verlassen. Ich bin zwar kein Spezialist für Metamorphosen, aber du kannst mit mir rechnen.«
Shaé schwieg.
Sie war jetzt nicht mehr so durstig.
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m späteren Vormittag hörten sie auf einmal Mo-A torengeräusche. Der typische Lärm von Moto-Cross-Maschinen, wenn sie Steilhänge hinaufrasen. Ohne ein Wort zu verlieren, änderten Nathan und Shaé ihre Richtung, um sich das Ganze näher anzusehen.
Schon bald entdeckten sie eine Bahn auf einer Hügelböschung, auf der drei knatternde Insekten versuchten, die Gesetze der Schwerkraft aufzuheben. Der Kurs bestand aus einer mit wilden Buckeln gespickten Doppel-schleife und führte anschließend über eine Reihe unglaublich harter Steilstücke direkt zur Kuppe. Oben angekommen, flogen die Motorräder in die Luft, bevor sie, außerhalb der Sicht, auf der anderen Seite wieder landeten. Mit kreischenden Motoren fuhren sie den Par-cours ab und tauchten ein paar Minuten später wieder unten im Tal auf. Dort parkten ein Auto mit Anhänger, daneben zwei Geländemaschinen. Hier bot sich eine Chance, aber Nathan war so benommen im Kopf, dass er keine Entscheidung treffen konnte. Er blickte Shaé fra-gend an. Sie nickte mit dem Kopf:
»Wir schleichen uns ran und machen drei Kreuze, wenn sie den Schlüssel stecken gelassen haben.«
Ein Auto klauen! Die Serie von Straftaten, die mit dem
»Ausleihen« des Kanus begonnen hatte, nahm beängstigende Ausmaße an, doch es gab keine andere Möglichkeit.
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Nathan und Shaé schlichen von Baum zu Baum und gelangten zum Auto, ohne dass sie bemerkt wurden. Die Türen waren offen, aber es steckte kein Schlüssel in der Zündung.
Nathan fluchte zischend. Er spürte, wie schlagartig wieder das Fieber in ihm aufstieg und seine Kräfte nachließen. Shaé reichte ihm ungerührt eine Lederjacke, die sie auf dem Rücksitz entdeckt hatte.
»Zieh die über«, riet sie ihm, »und duck dich. In zwei Minuten bin ich wieder zurück.«
»Was hast du vor?«
»’ne Maschine besorgen.«
»Ohne Schlüssel?«
Shaé nickte.
»Mit Zweirädern kenne ich mich aus.«
Sie robbte zu einer aggressiv aussehenden roten Honda. Sie packte einen Kabelstrang unter dem Tacho und riss ihn mit einem kräftigen Ruck heraus. Dann begann sie das Bündel zu sortieren, bog einige Kabel zur Seite und verband die Enden von anderen wiederum geschickt miteinander. Nathan bewunderte Shaé, wie sie schnell und ohne unnötige Handgriffe arbeitete. Wo, zum Teufel, hatte sie das gelernt?
Die Motorradfahrer hatten eine Runde zurückgelegt und würden bald aufkreuzen. Als
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