Das achte Tor
unterirdisch, hinter einer Tür zum Licht versteckt lag.
Als sie durch die Tür hindurchgegangen war, hatte Shaé das Gefühl gehabt, nach Hause zu kommen. Sie hatte die unzähligen Räume und Türen betrachtet und bestaunt in dem Bewusstsein, dass jede von ihnen zu einem anderen Ort führte.
Als sie eine kupferne, von Abnutzung glänzende Türklinke berührt hatte, vernahm sie Stimmen dahinter, und dann erwischte Barthélemy sie.
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Er war schnell, entschlossen und – das spürte sie – fä-
hig, sie zu töten. Sie hatte keine andere Wahl, als dem Etwas die Kontrolle über ihren Körper zu überlassen.
Allerdings hatte das Etwas sich verändert.
Es war geschmeidiger geworden, und leiser. Auch stärker. Und sehr viel gefährlicher.
Ohne die geringste Mühe hatte sie Barthélemy abgehängt.
***
Der Umschlag enthielt eine beträchtliche Summe Geld.
Shaés erster Reflex war, es in den Mülleimer zu werfen, doch dann überlegte sie es sich anders. Das Wiedersehen mit ihren Pflegeeltern war erbärmlich. Eine Mischung aus Gleichgültigkeit und Aggressivität, die sie abstieß. Ihr war klar, dass sie dieses Haus verlassen musste. Schnell und endgültig. Barthélemys Geld würde ihr erlauben, sich so lange über Wasser zu halten, bis sie selbst für sich sorgen konnte. Sie wäre noch am selben Abend losgefahren, doch diese Flucht hätte bedeutet, dass es keine Chance mehr für sie gäbe, Nathan wiederzusehen.
Jetzt saß sie an ihrem Tisch und tat so, als folgte sie dem Unterricht, der sie nicht interessierte, umgeben von Menschen, die für sie Fremde waren. Sie sagte sich, dass sie sich geirrt hatte. Nathan und sie lebten in verschiedenen Welten. Wenn sie weiterhin an ihn dachte, würde das nur dazu führen, dass sie sich selbst wehtat. Sie könnte …
Ein seltsames Stimmengewirr riss sie aus ihren Träumen. Der Direktor hatte die Klasse betreten. Er flüsterte 208
dem Lehrer etwas ins Ohr und ließ dann seinen Blick über die Schüler schweifen, die plötzlich aufmerksam wurden. Seine Augen hielten bei Shaé inne.
»Shaé, ich muss Ihnen ein paar Fragen stellen. Würden Sie bitte mitkommen?«
Das war ein Befehl und keine Frage. Shaé spürte, wie ein Schauder der Angst sie überfiel. Der Schulleiter kam niemals in die Klassen. Jedes Mal, wenn sie – was oft vorkam – ein Problem mit der Schulleitung hatte, war stets nur ein Aufseher gekommen, um sie abzuholen.
Was war jetzt los?
Protest war jedenfalls zwecklos. Shaé stand auf.
»Nehmen Sie Ihre Sachen mit.«
Die Vorahnung wurde zur Gewissheit. Gleich würde eine Falle zuschnappen. Eine unbekannte Falle, von der sie nur wusste, dass sie gefährlich war.
Aus der es kein Entkommen gab.
Das Etwas rührte sich in ihr, aber sie konnte es ohne größere Schwierigkeiten besänftigen. Ihre Klassenkame-raden sahen ihr mit ungewöhnlich interessierten Blicken nach.
Auf dem Flur erwartete sie Barthélemy. Er legte eine Hand auf ihre Schulter und beugte sich an ihr Ohr herunter.
»Du kommst mit mir. Ohne Protest. Nicht mal einen Laut gibst du von dir. Bei der geringsten verdächtigen Bewegung, dem kleinsten Versuch einer Verwandlung töte ich dich.«
Seine Hand wog schwer, sie war so bedrohlich wie seine Worte, völlig entgegengesetzt zur Sanftheit seiner Stimme. Shaé begriff, dass er keine Sekunde zögern würde.
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Sie nickte mit dem Kopf und folgte ihm. Ihr Herz schlug bis zum Hals. Als sie an den Toiletten vorbeikam, erregte eine winzig kleine Bewegung ihre Aufmerksamkeit.
Nathan hielt sich dort auf, im Schatten versteckt.
Ihre Blicke kreuzten sich. Ein flüchtiger und perfekter Austausch. Nathan legte einen Finger auf die Lippen, sie zwinkerte mit den Augen. Einmal.
Dann zog Barthélemy sie weiter ins Treppenhaus. Nathan blieb im Hintergrund.
Trotz der Ungewissheit, die ihr die Kehle zuschnürte, spürte Shaé, wie eine Welle der Erleichterung sie durch-lief.
Er hatte sie nicht im Stich gelassen.
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nendlich viele Ideen schwirrten Nathan durch den U Kopf, eine verrückter als die andere: Sollte er sich auf Barthélemy stürzen, um ihn als Geisel zu nehmen, einem der Wächter die Waffe entreißen und in die Menge schießen, den Feueralarm auslösen, in den Flur brüllen, um Schüler und Lehrer aufzuscheuchen …
Doch er verhielt sich ruhig, denn er wusste, dass seine Pläne sinnlos waren. Das Herz schlug ihm bis zum Hals.
Und als es ihm gelang, seine Fäuste wieder zu entspannen, lief eine schmerzhafte Welle durch seine
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