Das achte Tor
erstarrten Unterarme.
Auf leisen Sohlen schlich er aus der Toilette. Die Gruppe, angeführt von seinem Onkel, hatte das Erdgeschoss fast erreicht. Jetzt eilte Nathan die Treppe hinunter und achtete darauf, keinerlei Lärm zu machen. Er war darauf gefasst, sich nach hinten zu werfen, sobald sich einer der Männer umdrehte.
Durch die Scheibe der Eingangshalle konnte er auf den Parkplatz sehen, wo Barthélemy Shaé auf den Rücksitz eines großen dunklen Wagens schob und dann selbst einstieg. Zwei weitere Männer stiegen noch dazu, die anderen fuhren im zweiten Fahrzeug.
Nathan war klar, wenn er nicht ganz schnell handelte, wäre alles verloren.
Wäre Shaé verloren.
211
Er blickte panisch um sich, auf der Suche nach einem Auto, mit dem er die Verfolgung aufnehmen konnte, aber er entdeckte nur ein Motorrad, das an einer kleinen Mauer lehnte. Ohne zu überlegen rannte er los. Es war eine Ducati, eine reinrassige Rennmaschine.
»Noch nie so was gefahren, keine Schlüssel, Scheiße, Scheiße, Scheiße!«
Er schrie laut und hatte schon die Niederlage vor Augen, als ihm das Bild von Shaé in den Kopf schoss, wie sie die Honda startete, indem sie ein paar Kabel miteinander verband.
Es war nicht nur eine einfache Erinnerung, sondern ei-ne Erkenntnis. Ganz klar und deutlich. Wie eine Welle, die bisher um ihn herumgeschwappt war, ihn aber nie erfasst hatte. Eine Welle, die sich jetzt über ihn ergoss und alles um ihn herum ertränkte.
Als sie zurückströmte, rieb sich Nathan die Augen, um wieder Kontakt zur Realität aufzunehmen. Er befand sich kniend vor dem Motorrad und hielt ein Kabelbündel in der Hand. Mit exakten Handgriffen bog er drei Kabel zur Seite und verband die anderen miteinander. Der Motor der Ducati heulte auf.
Die beiden Wagen bogen hinter dem Lycée um die Ecke. Nathan schwang sich auf das Motorrad. Auch wenn er noch nie eine solche Maschine gesteuert hatte, gab es keinerlei Probleme.
Er wusste alles.
Er legte einen Gang ein und drehte den Gashebel auf.
Die Ducati schoss wie eine Rakete vom Parkplatz. Nathan klemmte den Tank zwischen die Beine und legte sich in die nächste Kurve, bis die Fußrasten den Asphalt 212
berührten. Die Wagen fuhren beide vor ihm und konnten ihn nun nicht mehr abhängen.
Er zwang sich, normal zu atmen, und versuchte zu analysieren, was soeben mit ihm geschehen war. Er fand keine Erklärung. Lernen war ihm immer leichtgefallen, aber noch nie hatte er so schnell etwas verstanden.
Er fuhr zu dicht auf die beiden Fahrzeuge auf. Da er keinen Helm trug, riskierte er, erkannt zu werden. Er wurde langsamer. Sein Plan war, dass er in dem Moment, in dem Shaé ausstieg, Gas geben und versuchen würde, sie ihren Häschern zu entreißen. Wenn es ihr gelänge, sich hinter ihm aufzuschwingen, würden sie problemlos entkommen. Blieb nur abzuwarten, wohin Barthélemy sie fuhr.
Die beiden Limousinen bogen auf die Autobahn ab.
Nathan folgte mit einigem Abstand. Der Fahrtwind trieb ihm die Tränen in die Augen, er schlotterte vor Kälte, aber er war davon überzeugt, auf dem richtigen Weg zu sein. Shaé brauchte ihn, und er sie. Diese Verbindung, die er immer noch nicht genauer hinterfragen wollte, war stärker als irgendeine Zugehörigkeit zur Familie.
›Ich bin glücklich zu sehen, dass du deinen eigenen Weg auf gute Weise gehst.‹
Rafis Worte hallten in seinem Kopf wider und passten haargenau zur jetzigen Situation. Wer war er? Wieso hatte Aimée Shaés Besonderheit erraten und über den alten Berber beharrlich geschwiegen?
Plötzlich scherte vor ihm ein Lieferwagen aus. Mit einem geschickten Haken wich Nathan aus und beschleunigte wieder. Ein großer dunkler Wagen hinter ihm tat das Gleiche, entkam aber nur um Haaresbreite einem 213
Unfall. Der Fahrer, ein Riese mit großer Sonnenbrille, hatte nicht gebremst.
Shaé und ihre Entführer fuhren am Hafen von der Autobahn ab. Für einen Moment glaubte Nathan, ihr Ziel sei eine der riesigen Lagerhallen nahe am Meer. Eine Aktion in einem geschlossenen Gebäude wäre riskant.
Beinahe unmöglich. Die Wagen fuhren weiter die Straße entlang. Dann begriff Nathan, wohin Barthélemy Shaé bringen wollte. In sein Haus. Ganz einfach. Er musste bitter lächeln, als er daran dachte, dass er genauso gut dort hätte auf sie warten können. Vor allem hätte er einen Plan vorbereiten können, um sie bei ihrer Ankunft zu befreien, nun aber musste er einfach nur blöd hinter-herfahren.
Er ließ die Ducati ein paar hundert Meter vor der
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