Das achte Tor
Gebäude.
»Wir sind da, junger Mann.«
Nathan stieg schwankend aus dem Wagen. Rafi beugte sich zu ihm herüber.
»Du wolltest mich etwas fragen?«
Nathan prustete.
»Ja. Wer Sie sind und was Sie wollen.«
»Keine Zeit!«, schnitt ihm Rafi das Wort ab. »Die Antwort erfordert mindestens eine ganze Nacht, und dein Weg ist noch weit. Unsere Pfade werden sich wieder kreuzen, du kannst sicher sein.«
Er hatte den Satz kaum beendet, da startete er auch schon wieder durch und hinterließ auf dem Asphalt eine qualmende Gummispur. Nathan war jetzt alleine.
Aber sofort fokussierten sich seine Gedanken auf die Aufgabe, die er zu erfüllen hatte. Es war niemand mehr außerhalb der Schule. Die Schüler waren gerade in ihre Klassen zurückgekehrt und folgten dem Unterricht. Er näherte sich dem Zaun. Das Tor war zu. Er zögerte, ob er drüberklettern oder die Sprechanlage benutzen sollte. Das Risiko, ertappt zu werden, war zu groß, also läutete er.
»Ja?«
»Ich bin zu spät. Tut mir leid.«
Er fürchtete, nach seinem Namen und seiner Klasse gefragt zu werden, aber der Hausmeister schien solche Vorkommnisse gewohnt zu sein, denn mit einem Surren öffnete sich das Tor. Jetzt musste er Shaés Klasse ausfin-dig machen, sie davon überzeugen, mit ihm zu kommen 204
und das Gebäude zu verlassen, ohne Aufsehen zu erregen. Nichts einfacher als das.
Er betrat den Eingangsbereich. Diese Schule hatte mit denen, die er besuchte, wenig gemeinsam, aber er fand sich dennoch sehr schnell zurecht. Das Sekretariat befand sich im Erdgeschoss, die Klassenräume lagen in den oberen Stockwerken. So ungezwungen wie möglich ging er eine Treppe hinauf. Als er auf dem Treppenabsatz angekommen war, begegnete er einem Aufseher, der einen Blick auf seine Uhr warf.
»Jetzt aber schnell, beeil dich!«
»Okay.«
Sich des Blicks in seinen Rücken bewusst, bog Nathan ab in einen Flur. Glücklicherweise hatten die Räume Fenster zum Gang hin, so dass man auf Zehenspitzen stehend hineinschauen konnte. Sobald der Aufseher weg war, begann er mit seiner Suche.
Als er den zehnten Klassenraum inspiziert hatte, hörte er plötzlich Stimmen näher kommen.
»Wir haben mit ihr schon Probleme wegen ihrer Disziplin gehabt, aber ich hätte nie geahnt, dass sie sich mit solchen Dingen befasst.«
»Drogendealer berichten nur selten von ihren Aktivitä-
ten.«
Die zweite Stimme war die von Barthélemy.
Nathan suchte fieberhaft nach einem Versteck. Er schlug in dem Moment die Toilettentür hinter sich zu, als eine Gruppe von Männern um die Ecke in den Flur kam: Barthélemy, der Schulleiter und fünf oder sechs Individuen im Anzug, die zur Familiengarde gehören mussten.
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»Sind Sie sicher, dass diese Überprüfung rechtmäßig ist?«, fragte der Schulleiter skeptisch.
»Sie halten die richterlich genehmigten Dokumente in Händen. Genügt das nicht?«
»Shaé ist minderjährig. Wie kann sie die Rolle spielen, die Sie ihr unterstellen?«
»Sicherlich steht dieses junge Mädchen nicht an der Spitze eines internationalen Drogenrings, aber durch sie erhalten wir eine wichtige Verbindungslinie, um ihn aufdecken zu können. Deshalb die ungewöhnliche Vor-gehensweise. Ich zähle auf Sie, damit diese Angelegenheit keine Wellen schlägt.«
Der Direktor kapitulierte vor der Selbstsicherheit und dem Charisma Barthélemys.
»Ich werde mein Bestes tun. Wir sind da.«
Nathan riskierte einen Blick auf den Flur.
Zehn Meter von ihm entfernt blieben die Männer vor einer Tür stehen. Die Wächter nahmen eine Position ein, die jeden Fluchtversuch im Ansatz verhindern würde.
Dann warf sich der Schulleiter in die Brust und betrat die Klasse.
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haé saß gedankenverloren da.
S Am Vorabend hatte sie ein Chauffeur in einer Limousine zu ihren Pflegeeltern gefahren. Er hatte sie vors Haus gebracht und ihr die Wagentür aufgehalten, bevor er ihr einen verschlossenen Umschlag überreichte. Dann war er wortlos wieder abgefahren.
Sie wusste nicht mehr, was los war.
Die Art und Weise, wie Nathan und sie auseinander-gegangen waren, schmerzte sie. Sie hörte jedes ihrer Worte, die sie ihm an den Kopf geschleudert hatte, und seine Abwesenheit brannte in ihr.
Doch das war nicht alles. Es gab die Kreaturen, mit denen sie unter Lebensgefahr gekämpft hatte, ihre sagenhafte Flucht mit Nathan und die beruhigende Wirkung, die er auf ihren Durst ausübte. Dann war da noch diese mächtige Familie, beinahe erschreckend. Und vor allem dieses mysteriöse Haus, das
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