Das achte Tor
Jesuiten-Saal lassen. Was genau suchen Sie?«
»Einen Hinweis auf bedeutende Familien oder auf eine Person namens Jaalab.«
»Das klingt nicht sumerisch«, merkte der Konservator an.
Nathan begnügte sich mit einem Schulterzucken und las weiter. Entgegen seiner Behauptung konnte er nicht genügend Latein, um sehr schnell zu lesen, und der ne-281
bulöse Text hatte überhaupt nichts mit dem zu tun, was er erwartete.
Er hätte ihn gerne in Ruhe studiert, am liebsten unter Zuhilfenahme eines Wörterbuchs, aber die Anwesenheit des Konservators störte ihn, ebenso wie Shaés Auf-und-ab-Gehen in dem großen Saal.
»Kannst du nicht mal fünf Minuten aufhören, rumzu-laufen?«, rief er nach einer Weile empört.
Sie sah ihn überrascht an, schüttelte den Kopf und lehnte sich an ein Fenster.
»So liebe ich dich«, knirschte sie zwischen den Zähnen,
»man könnte meinen, du wärst mein Franzlehrer.«
»Da!«, rief der Konservator und deutete auf eine der beiden Textspalten. »›Also wandte sich der König an eine der sieben Familien und erkundigte sich nach ihrer …
ihrer Heilkraft.‹ Ja, das heißt es, potestatem curandi: Heilkraft. ›Sie mögen ihre Heilkraft seinem Sohn zuteil werden lassen.‹ Und hier, ein Stück tiefer: ›Die Familien folgten dem Rat der … formas mutantium, Formenwandler.‹ Ich verstehe nicht, was das bedeutet, aber so steht es dort geschrieben: ›… der Formenwandler und reisten gen Osten.‹«
Nathan war plötzlich fiebrig. Er blätterte die Seite um und fand eine Stelle über die Baumeister, auf einer anderen Seite eine über die Mnemiker. Noch zwei Seiten weiter entdeckte er die lateinische Entsprechung für Kogist, dann eine Wendung, die er mit ›diejenigen, die durch Zuschauen lernen‹ übersetzte. Mit diesen Fundstel-len müsste man sich intensiver befassen und jeden damit zusammenhängenden Abschnitt entziffern, aber das konnte er nicht. Er blätterte die Seiten um und suchte 282
nach weiteren Hinweisen. So las er sich durch drei Viertel des Buches.
Bis er die Karte entdeckte.
Es war mehr ein Übersichtsplan als eine echte Karte, bestehend aus blassen, sich kreuzenden Linien, die eine Vielzahl an Quadraten und Rechtecken unterschiedlicher Größe bildeten. Ein völlig unverständliches Werk, wäre da nicht der Titel gewesen: Domus in Aliis Locis.
Das Haus im Irgendwo!
Er hatte einen Plan des Hauses im Irgendwo vor sich!
Die winzigen Striche am Rand der Räume mussten die Tore sein, und die daneben befindliche fast mikrosko-pisch kleine Beschreibung zeigte an, wohin sie führten.
Er kniff die Augen zusammen. Mnesicis janua: das Tor der Mnemiker, Cogitis janua; das Tor der Kogisten, Sco-liastis janua: das Tor der Scholiasten …
Das war’s. Anton hatte ihm erklärt, dass die Baumeister den anderen sechs Familien Türen angeboten hatten.
Der Plan zeigte auf, welche.
Er sah auf, um Shaé herbeizurufen, als er neben dem Mittelfalz einen Namen entdeckte. Ein anderer Name als diejenigen, die auf der ganzen Karte immer wieder vorkamen: Jaalabis janua.
Jaalabs Tor!
»Dieser Plan ist ein Rätsel«, sagte der Konservator in hochgelehrtem Tonfall. »Er wurde nicht zusammen mit dem Rest des Buches gedruckt, sehen Sie den Faden, mit dem er an die anderen Seiten angebunden ist. Obwohl auch er sehr alt ist, stammt er nicht aus der gleichen Epoche und …«
Nathan hörte ihm nicht zu.
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»Shaé …«
Sie starrte hinaus auf die Straße und schenkte ihm nicht die geringste Aufmerksamkeit.
»Shaé! Komm her. Hier ist ein …«
»Sei still!«
Ihr Befehl klang so energisch, dass Nathan schwieg. Sie drehte sich um und ließ ihre Augen durch den Raum schweifen. Ihr Blick blieb an der Kamera hängen, die in einer Ecke befestigt war.
»Was ist das?«, fragte sie den Konservator.
»Eine Überwachungskamera. Wir schalten sie über Nacht an, um …«
»Nachts? Tatsächlich?«
Sie ging einen Schritt auf die beiden zu, und das Objektiv schwenkte mit, um sie im Blickfeld zu behalten.
»Ich … ich … verstehe das nicht«, stammelte der Konservator. »Das ist mit Sicherheit ein Fehler im System.«
Er lächelte ein wenig dämlich, fing sich dann aber wieder.
»Das ist doch nicht schlimm! Gefilmt zu werden bereitet keinerlei Unannehmlichkeiten, sofern …«
Shaé drehte ihm den Rücken zu.
»Dieser Saal ist eine Falle, Nat. Eine Falle, die deine Familie aufgestellt hat, um ihre Feinde anzulocken und in die Enge zu treiben. Wir haben diese Bibliothek viel zu leicht
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