Das achte Tor
einsehen«, verkündete Nathan.
Die Sekretärin warf ihm ein bedauerndes Lächeln zu.
»Das Betreten des Jesuiten-Saals ist nur nach Voranmeldung möglich.«
»Aber wir müssen ganz dringend etwas recherchieren.«
Wieder lächelte sie.
»Immer dasselbe mit den Studenten: trödeln, trödeln, und plötzlich merkt man, dass es zu spät ist. Sind Sie in der Bibliothek eingeschrieben?«
»Noch nicht.«
»Aber Sie wohnen doch in Valenciennes?«
»Nein. Wir kommen aus Paris, wegen dieser Recher-che.«
»Aus Paris? Und rufen nicht einmal vorher an? Ihr jun-278
gen Leute habt Nerven! Warten Sie hier, ich bin in zehn Minuten zurück.«
Die Sekretärin war bald wieder da, in Begleitung eines jungen Mannes, der kaum älter als Nathan schien. Sie stellte ihn als Konservator der Bibliothek und Verantwortlicher für den Jesuiten-Saal vor.
»Kann ich Ihnen helfen?«, erkundigte er sich.
»Ich studiere Geschichte«, erklärte Nathan, »und im Rahmen einer Forschungsarbeit müsste ich einige Ihrer Inkunabeln durchforsten.«
»Wie lautet das Thema Ihrer Arbeit?«
Nathan verkrampfte sich leicht. Aber da sein Gegen-
über weder misstrauisch noch feindselig wirkte, sondern nur aus Neugier fragte, entspannte er sich schnell wieder.
»Die Verbreitung der sumerischen Zivilisation und der Fortbestand gewisser Traditionen über die Jahrhunderte.«
Der junge Konservator bekam leuchtende Augen.
»Das ist kein einfaches Thema, aber ich denke, Sie haben an die richtige Tür geklopft. Wir besitzen ein recht obskures Exemplar, das, so scheint mir, dieses Thema behandelt. Ehrlich gesagt, ist sein Inhalt sehr umstritten.
Zumindest unter den drei oder vier Spezialisten, die sich in den letzten fünfzig Jahren die Mühe gemacht haben, sich darin zu vertiefen. Folgen Sie mir.«
Von einschreiben oder Voranmeldung war nun keine Rede mehr. Mit einem Lächeln, wie es nur Wissenschaftler haben, die dieselbe Leidenschaft teilen, führte der Konservator Nathan und Shaé aus dem Lichthof. Sie gingen eine breite Steintreppe hinauf, die zu den oberen Stockwerken führte.
»Wir befinden uns in einem ehemaligen Jesuitenkol-279
leg«, erklärte er. »Daher der Name des Saals, in den ich Sie führe. Ein Gutteil unserer alten Bücher stammt übrigens aus der Bibliothek des Kollegs.«
»Auch die Inkunabel, von der Sie sprachen?«
»Ich glaube schon. Die Jesuiten waren zu allen Zeiten wissbegierig und sehr belesen, auf vielen Gebieten, darunter auch manches geheime. Ich bin im Übrigen davon überzeugt, dass uns die Keller der Bibliothek noch nicht einmal die Hälfte ihrer Geheimnisse enthüllt haben.
Bitte, wir sind da.«
Er öffnete die Tür zu einem großen, zwanzig Meter langen gewölbten Saal. Der Boden war mit altem Parkett ausgelegt, und beide Kopfenden zierten gigantische Fres-ken. In der Mitte stand ein riesiger Arbeitstisch aus Nussbaum, doch es waren die Bücherregale, von denen eine unwiderstehliche Anziehungskraft ausging. Über ihnen hingen Gemälde aus dem 16. und 17. Jahrhundert.
In den Regalen befanden sich Tausende von perfekt er-haltenen Werken unvorstellbaren Alters.
»Eine großartige Sammlung, nicht wahr?«, sagte der Konservator. »Der Band, den Sie suchen, müsste sich …
hier befinden!«
Zielsicher griff er nach einem Zauberbuch, dessen Ein-band im Laufe der Zeit Patina angesetzt hatte. Voller Respekt legte er es auf den Tisch.
»Mit größter Sorgfalt zu behandeln«, befahl er. »Davon gibt es höchstens noch zehn Exemplare weltweit.«
Nathan und Shaé traten näher, ihr Herz klopfte.
In einer Ecke des Raums schwenkte eine Überwachungskamera in ihre Richtung.
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ie Inkunabel war in gotischen Lettern und so eng D gedruckt, dass es schwierig war, die einzelnen Buchstaben auseinanderzuhalten. Shaé seufzte frustriert.
»Sind das Hieroglyphen?«, fragte sie.
Der Konservator warf ihr einen erstaunten Blick zu.
»Nein, das ist Latein«, erklärte Nathan.
»Und du kannst das lesen?«
»Ich bemühe mich«, antwortete er und fing an zu blättern. »Ich werde mich durchbeißen.«
»Zögern Sie nicht, mich um Hilfe zu fragen«, schaltete sich der Konservator ein. »Ich habe ein Seminar über klassische Schriftarten besucht und beherrsche das Lateinische noch recht gut.«
»Ich wollte Sie nicht stören«, sagte Nathan, der hoffte, er würde sich möglichst schnell zurückziehen.
»Sie stören mich nicht, und ich muss Ihnen ja in jedem Fall Gesellschaft leisten. Wir dürfen keine Besucher allein im
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