Das achte Tor
befinden sich mit dir im Einklang, und du mit ihnen. Du kannst sie verriegeln.«
»Aber … ich … das hat mir niemand beigebracht. Ich meine, wie soll ich das machen? Das ist unmöglich, es gibt kein Schloss, nur eine einfache Klinke. Ich …«
»Warte, Shaé.«
Nathan hätte sie beinahe in den Arm genommen, hielt aber inne, weil ihm klar war, dass er sie so nicht überzeugen konnte. Deshalb legte er in seinen Blick alle Zärtlichkeit, die er ihr gerne mit seinen Händen gegeben hätte.
»Wir müssen das Wort ›unmöglich‹ eliminieren, Shaé.
Das Blut, das in unseren Adern fließt, und die Kräfte, die daraus resultieren, sind der Beweis dafür, dass nichts unmöglich ist. Wer hat behauptet, dass ein Schloss notwendig sei, um eine Tür zu verriegeln?«
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»Okay.«
»Rafi hat mich darauf gebracht. Die Erkenntnisse der Menschen basieren auf ihren Grenzen, nicht auf der Realität. Der Zufall wollte es, dass wir beide andere Fähigkeiten als normale Sterbliche haben. Unsere Gewissheiten verlieren ihre Gültigkeit, Shaé. Du bist eine Baumeisterin, du kannst diese Tür verschließen.«
Seine Stimme hatte einen drängenden Tonfall angenommen.
Shaé näherte sich der Tür. Sie drückte beide Hände flach dagegen und versuchte, eine innere Leere herzustel-len, um Nathans so verführerische Worte auf die Realität einer Holzplatte mit zwei Scharnieren einwirken zu lassen.
Eine Gewissheit, eine von denen, die sie auf Nathans Wunsch hin ignorieren sollte, keimte verfänglich in ihr auf: Sie würde es nicht schaffen.
Die plötzliche Vision des Kellers und der Milizionäre, die dort aufmarschierten, traf sie überraschend heftig. Sie stieß einen kleinen Schrei aus und trat einen Schritt von der Tür zurück. Die Vision verschwand, sobald sie die Hände von der Tür genommen hatte.
»Was ist los?«, fragte Nathan beunruhigt.
Anstatt zu antworten, legte sie Hände wieder an die Tür.
Als hätte sich die Tür plötzlich in Luft aufgelöst, sah sie Männer in Kevlar-Panzern, die in weniger als fünf Meter in Stellung gingen und ihre Sturmgewehre auf sie richteten. Sie hörte, wie sie von der Tür sprachen, sah, wie sie danach suchten, zuerst tastend, dann mit zunehmender Genauigkeit. Ihr war klar, dass die Tür in weni-294
gen Sekunden aufgehen würde, sofern in einem von ihnen das Blut einer der Familien fließen würde.
Ihre Lippen zogen sich zusammen, und ein raues Brummen drang aus ihrer Kehle. Dass die Mörder über eine Macht verfügten, von der sie nichts verstanden, erfüllte sie plötzlich mit dumpfer Wut.
Die Kunst der Tore war nicht für Barbaren bestimmt!
Die Baumeister hatten zwar ihr Wissen geteilt, achteten aber dennoch sorgfältig darauf, wie die anderen Familien mit diesem Wissen umgingen. Und sie konnten es ihnen wieder entziehen, wenn diejenigen, denen sie es zur Verfügung gestellt hatten, sich dessen nicht als würdig erwiesen.
Shaé strich behutsam über die Tür, in einer Geste aus Sanftheit und Bestimmtheit. Einer unumstößlichen Geste.
Ein metallisches Klacken ertönte. So laut, dass Nathan sich die Ohren zuhalten musste, während die schwarz gekleideten Milizionäre abrupt zurückwichen und irritiert um sich blickten.
Shaé drehte sich zu Nathan um.
Sie lächelte nicht, dennoch strahlte ihr Gesicht.
»Die Tür ist zu, Nat. Ich glaube allerdings, ich bin ein bisschen zu weit gegangen. Ab jetzt sind die eintausendsiebenhundert Holztüren des Hauses verriegelt und für jeden, der kein Baumeister ist, unzugänglich. Was die sieben Eisentore angeht, bin ich nicht sicher, aber das ist nicht so wichtig, denn die anderen Familien haben sie nie benutzt.«
»Du bist genial!«, rief Nathan. »Du …«
»Warte«, unterbrach ihn Shaé, »ich muss dir noch et-295
was sagen. Etwas ganz Einfaches, aber das ist sehr wichtig.«
»Ich bin ganz Ohr.«
»Willkommen zu Hause, Nat. Willkommen bei mir zu Hause.«
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ie saßen auf der Terrasse, ließen die Füße baumeln S und sahen dem Sonnenaufgang zu.
Zehn Minuten waren vergangen, seitdem Shaé die Tü-
ren verriegelt hatte. Mühelos hatte sie den großen Saal wiedergefunden, und sie erklärte Nathan, dass dieser Raum und die daran anschließende Terrasse den Mittel-punkt des Hauses bildeten.
Als Nachfahre der Baumeister vernahm sie deutlich diesen Pulsschlag, eine Fähigkeit, die sie nie wieder verlieren konnte.
»Und der Zeitunterschied?«, fragte Nathan sie. »Hier ist Sonnenaufgang und bei uns Mittag. Wie erklärst du dir
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