Das achte Tor
das?«
»Keine Ahnung«, antwortete Shaé, »das Haus spricht in mir, aber die Welt, in der es gebaut ist, ist mir vollkommen fremd.«
Nathan schüttelte den Kopf. Er entfernte ein Stück Putz, das in einer Falte seiner Jacke hängen geblieben war, und schnipste es in die Wiese. Sofort wuchs ein dicker Stängel empor und wickelte sich wie ein Tentakel um das Putzstück, das in Stücke zermalmt und dann verschluckt wurde.
Das Gras verfiel wieder in seine pflanzliche Passivität, und in seine räuberische Wachsamkeit.
»Ich verstehe nur zu gut, dass deine Vorfahren es auf-297
gegeben haben, sich an eine genauere Erforschung dieses Universum zu machen«, sagte Nathan und grinste.
»Unsere Vorfahren!«, erwiderte Shaé. »Ich erinnere dich daran, dass die Baumeister den anderen Familien Tore zur Verfügung gestellt haben. Jahrhundertelang sind Kogisten, Mnemiker und Scholiasten durch die Flure des Hauses gelaufen.«
»Und Jaalab?«
»Wieso Jaalab?«
»Wie kommt es, dass auch er ein Tor hat?«
»Es würde mich wundern, wenn das ein Geschenk wä-
re«, antwortete Shaé, »aber das beste Mittel, mehr dar-
über zu erfahren, ist nachzuschauen, nicht wahr?«
»Ähm …«
Shaé musterte Nathan von oben bis unten. Er starrte auf den Horizont, und in seinem Gesicht stand eine Mischung aus Besorgnis und Unentschlossenheit.
»Was ist mit dir, Nat?«
Er war unfähig, seine Not zu schildern, und antwortete nicht gleich.
»Nat?«
Er drehte sich zu ihr um.
»Ich bin nicht sicher, ob wir in der Lage sind, gegen diese Kreatur zu kämpfen.«
»Warum sagst du das? Wieso jetzt?«
»Es ist offensichtlich, Shaé. Seit ewigen Tagen sind wir auf der Flucht. Vor den Helluren, den Lykanthropen, den Grœnen, vor meiner Familie. Wir fliehen und verstehen nichts, beherrschen nichts und retten unsere Haut immer nur mit knapper Not. Wir sind zwei Grashalme, die ein Sturm hin und her rüttelt, und ausgerechnet wir sollten 298
die Ursache dieses Sturms vernichten? Ich fürchte, das übersteigt bei weitem unsere Fähigkeiten.«
»Du unterschätzt uns. Warst nicht du es, der gerade erst behauptet hat, uns würden die menschlichen Grenzen nichts angehen?«
»Das behaupte ich immer noch, und du hast dafür gerade einen schlagenden Beweis geliefert.«
»Ich weiß nicht, worauf du hinauswillst.«
Er sah Shaé tief in die Augen und wollte ihr etwas er-klären, was er nicht aussprechen konnte.
Es gelang ihm nicht, und so musste er sich dazu entschließen zu reden:
»Du hast recht, ich bin nicht mehr derselbe wie vor einer Woche. Überhaupt nicht mehr derselbe. Aber das hat nichts zu tun mit irgendeiner Macht. Es ist wegen dir, Shaé. Du hast mich verwandelt. Du bist in mein Leben getreten, in meine Gedanken, meine Träume, meine Seele. Und wenn ich vor etwas Angst habe, dann ist es allein davor, dich zu verlieren.«
Shaé erschauderte. Sie war zutiefst in ihrer Seele be-rührt.
Sie schloss die Augen und versuchte, den Gefühlsaus-bruch, der sie zu überwältigen drohte, unter Kontrolle zu bekommen. Sie zwang sich, langsam zu atmen, während sich eine Gewissheit einen Weg durch ihr Gehirn bahnte.
Reden.
Sie musste reden. Oder sie würde es sich ewig zum Vorwurf machen. Weil sie eher die Einsamkeit gewöhnt war, musste sie sich zu den ersten Worten regelrecht zwingen.
»Deine Verwandlung ist nichts im Vergleich zu mei-299
ner, Nathan«, sagte sie leise, »ich war die Nacht, und du hast mir das Licht gebracht. Und egal, was aus uns wird, ich werde dir immer dafür dankbar sein.«
Sie öffnete die Augen und sah Nathan an.
»Aber wir müssen den Weg bis zum Ende gehen. Du weißt ebenso gut wie ich, dass Rafi die Wahrheit gesagt hat. Wenn wir den Anderen nicht aufhalten, wird er die Welt zerstören.«
»Wir könnten hier bleiben. Jetzt kann niemand mehr in das Haus. Wir …«
Mit einer knappen Handbewegung forderte sie ihn auf zu schweigen. Die Worte sprudelten nur so aus ihr heraus. Frei.
»Nein, Nat. Bevor du kamst, war mir die ganze Welt egal. Bis heute. Aber alles sausen zu lassen wäre ein Fehler, den wir uns nie verzeihen würden. Es wäre wie ein Gift, das unsere Existenz zerstörte. Und auch das, was wir gerade entdeckt haben, und was uns glücklich macht.
Eben erst habe ich dich getroffen, und schon fürchte ich, dich wieder zu verlieren. Doch ich will lieber ein kurzes, aber intensives Leben als eine Ewigkeit im Mittelmaß.
Auch mit dir.«
Shaés Herz schlug heftig. Das Gefühl, das sie bis jetzt unterdrücken
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