Das achte Tor
konnte, brandete in ihr auf. Sie zitterte.
Eine Träne lief über ihre Wange. Sie wischte sie mit dem Handrücken ab.
Nathan wollte sie an sich drücken, doch sie schob ihn weg.
»Rühr mich nicht an, Nat.«
»Aber …«
»Zu viele Veränderungen. Ich begreife das noch nicht.«
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Er runzelte die Stirn und versuchte verzweifelt, sie zu verstehen. Es gelang ihm nicht. Sie lächelte über seine Bemühungen. Ein schwaches Lächeln, das ihn traurig machte.
»Wir werden über alles reden, wenn wir diese Geschichte hinter uns haben, einverstanden?«
Er nickte schweigend und war zu verstört, um zu dis-kutieren.
Das endlose Gras vor ihnen wogte sanft.
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12
ie saßen im großen Hauptsaal des Hauses an einem S schweren Tisch aus blauem Stein und blätterten lange Zeit die Inkunabel durch, ohne irgendetwas Wichtiges über die Familien zu erfahren. Der Verfasser war ein Gelehrter, der sich damit begnügt hatte, die anekdoti-schen Fakten aufzulisten, ohne etwas von der Natur der Menschen zu ahnen, über die er berichtete.
Nathan, der es für Shaé aufmerksam übersetzte, war nahe dran aufzugeben, als er schließlich einen interessan-ten Abschnitt entdeckte. Er las ihn laut vor:
»›Auch wenn am Ende des Krieges die körperliche Hülle des Anderen vernichtet war, konnte sein Wesen dennoch nicht zerstört werden. So wurde es dreigeteilt und jeder Teil in einer Weltblase verschlossen. Die Familien wahrten jedoch die Hoffnung, sich des Anderen endgültig zu entledigen. Also wurde das achte Tor geschaffen, um den Anderen in seiner Ganzheit zu treffen. Es wurde beschlossen, dass die Baumeister die drei Tore bewachen, die zu den Weltblasen führen, dass aber die Überwachung des achten Tors bis in alle Ewigkeit allen Familien oblag. Deshalb wurde es außerhalb des Hauses errichtet und in einem Marmorwürfel ver-siegelt.‹«
»Das ist alles andere als klar«, merkte Shaé an.
»In der Tat«, stimmte Nathan zu, »nur nicht, was die 302
Dauer der Überwachung betrifft. Die Familien haben offensichtlich den Begriff der Ewigkeit unterschätzt.«
Er überflog die letzten Seiten des Buchs, um wieder zum Plan des Hauses zurückzukehren.
»Hier«, sagte Nathan und zeigte auf einen blassen Strich und die dazugehörige Legende: » Jaalabis janua, Jaalabs Tor.«
Shaé beugte sich darüber, um die Details der Zeichnung erkennen zu können.
»Und du bist sofort darauf gekommen, dass es sich um das Haus im Irgendwo handelt?«
»Ich wusste es, als ich Pratum Vorax gelesen habe, was so viel bedeutet wie: unersättliche Wiese. Der Rest ist logisch.
Der Raum, in dem wir uns befinden, ist hier, Barthélemys Tür dort und Jaalabs Tor am anderen Ende des Hauses, anscheinend im zweiten oder dritten Stockwerk.«
Shaé hob den Kopf.
»Gehen wir los?«
»Ohne eine Ahnung, welche Welt uns hinter dieser Tür erwarten wird? Bist du dir sicher?«
»Wenn dein altes Buch keinen Mist erzählt, kommen wir in der Weltblase von Jaalab raus.«
»Wir müssen nur noch herausfinden, was eine Weltblase eigentlich ist«, entgegnete Nathan. »Und ehrlich gesagt frage ich mich, ob wir uns wünschen sollen, dass sich Jaalab dorthin zurückgezogen hat, oder lieber hoffen, dass er sich außerhalb aufhält.«
»Laut Rafi hat ihn dein Onkel Barthélemy verletzt, und er musste sich in sein Loch verkriechen, um sich zu kurieren. Er ist in seiner Weltblase, glaub mir, und wir werden ihn dort aufscheuchen.«
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»Super …«, spöttelte Nathan.
Shaé kommentierte das mit einem Schulterzucken und stand auf. Seufzend folgte Nathan ihr.
Er zögerte, ob er das Schwert an seinem Gürtel befe-stigen oder auf seinen Rücken schnallen sollte, entschied sich dann für die zweite Lösung. So konnte er es zwar nicht ganz so schnell ziehen, würde aber nicht Gefahr laufen, damit irgendwo hängen zu bleiben oder es im entscheidenden Moment als Hindernis zu empfinden.
»Die Inkunabel lasse ich hier, okay?«
»Gute Idee, dann haben wir sie noch nach unserer Rückkehr.«
Nathan ging nicht auf den Optimismus ein, der aus Shaés Worten sprach.
Gemeinsam brachen sie auf, um das Haus zu erkun-den.
***
Sie liefen fast eine halbe Stunde, stiegen mindestens zehn Treppen hoch, durchquerten eine Vielzahl von Räumen, die reicher möbliert waren als die im Erdgeschoss, und liefen unzählige Flure entlang, bevor sie endlich Jaalabs Tor erreichten.
Nathan, der befürchtet hatte, er würde es nicht erkennen, stellte fest, dass er sich grundlos gesorgt hatte.
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