Das Achtsamkeits Buch
Empfindungen, Gedanken, Gefühle oder auch Teile der Persönlichkeit zu benennen, um sich dann wieder auf den Atem zu konzentrieren, ist es auch bei den eigenen Reaktionenauf andere wirksam, sie zu benennen. Dieses Benennen der Phänomene führt dazu, sie einerseits klarer zu fassen und andererseits etwas Abstand zu ihnen zu gewinnen. Man beschreibt dabei kurz innerlich das, was gerade bemerkt wird, etwa: »ich werte ab«, oder »ich versuche zu überzeugen«, »ich höre nicht zu«, »ich gerate unter Druck«. Hat man Zugang zu dem Teil, der gerade so reagiert, dann hilft es, ihn beim Namen zu nennen, zum Beispiel: »mein Abblocker wehrt ab«, »der Zyniker spricht«, oder »der Verletzliche ist traurig«.
Als nächstes kann man versuchen, noch mehr Abstand zu dem jeweiligen Gefühl oder Verhaltensimpuls herzustellen, indem man sich ihm direkt zuwendet. Oft redet man sich spontan innerlich gut zu, wenn man sich beruhigen, besänftigen oder auch anspornen will, zum Beispiel: »ganz langsam«, »immer mit der Ruhe«, »Du schaffst das …«. So eine persönliche Selbst-Ansprache kann auch in schwierigen Gesprächen bewusst eingesetzt werden. Sie hilft beim Regulieren von emotionalen Reaktionen und beim Sich-Ablösen von vereinnahmenden Teilen der Persönlichkeit. So kann man beispielsweise einen »Kämpfer«, der auf eine Provokation reagiert, bitten, etwas auf Abstand zu gehen: »Ich weiß, was Dich aufregt, gib mir den Raum, darauf zu antworten und gehe Du etwas auf Abstand.« Einem »Abblocker«, der sich zu impulsiv und schroff abgrenzen würde, kann man innerlich sagen: »Ich weiß, was Dir wichtig ist, ich kümmere mich darum, bitte trete Du erstmal etwas beiseite«. Teile, die stark reagieren, beruhigen sich manchmal schon allein dadurch, dass man ihnen innerlich zeigt, dass man sie erkennt und wahrnimmt.
Ähnlich wie die Ausrichtung auf den Atem hilft, mit Ablenkungen bei Achtsamkeitsübungen umzugehen, kann man sich auch im Kontakt mit einer Person auf Gemütszustände ausrichten, die hilfreich sind, etwa Gelassenheit, Verständnis, Mitgefühl, Interesse, Verbundenheit, Klarheit. Man kann sich auf diesen positiven Zustand konzentrieren und sich diesem wieder bewusst zuwenden, sobald man bemerkt, dass sichalte, bekannte Verhaltensweisen anbahnen. Die innere Ausrichtung auf eine Qualität wie Verständnis oder Gelassenheit kann wie ein Leitfaden wirken und immer wieder daran erinnern, was einem im Gespräch mit der Person am Herzen liegt.
Diese beiden Aspekte, sich auf hilfreiche Qualitäten auszurichten und destruktiv wirkende Zustände oder Anteile zu bitten, zurück zu treten, genügen jedoch nicht immer. Gerade in wichtigen Beziehungen wiederholen sich oft unglückliche Eskalationen und die Beschützer-Teile, die daran beteiligt sind, sind nicht bereit, beiseite zu treten. Oft hängt das auch damit zusammen, dass sie sich »nicht schon wieder« oder »diesmal gerade nicht« mit ihren Bedürfnissen oder Interessen zurückweisen lassen wollen. Dann brauchen sie neben der grundsätzlichen Anerkennung ihrer Wünsche oder Intentionen vor allem das Gefühl, verstanden und ernst genommen zu werden, und die Gewissheit, dass man sich um ihre Belange wirklich kümmern wird.
Damit sich nachhaltig etwas entspannen und verändern kann, ist neben dem bewussten Annehmen eines verletzlichen Zustandes eben auch eine konstruktive Fürsorge für diesen Teil notwendig, z.B. mit der Übung »Achtsamer Dialog mit Teilen« (S. 176).
Verletzliche Teile haben oft eine lange Geschichte. Solange sie diese »Altlasten« tragen, und sie nicht gut integriert sind, bleibt die Wahrscheinlichkeit sehr hoch, dass sie überempfindlich reagieren und automatische Reaktionen auslösen. Sie können immer wieder durch das Verhalten von Gesprächs- oder Beziehungspartnern ausgelöst werden. Damit sich etwas verändert, kann es entscheidend sein, die Erfahrungen, Gefühle und Anschauungen, die viel früher in der Biografie entstanden sind, aufzudecken und tiefer zu verstehen. Das ist ohne tiefenpsychologisch geschulte Unterstützung oft nicht so leicht möglich.
In Auseinandersetzungen oder schwierigen Situationen mit anderen ist die akzeptierende Haltung gegenüber der eigenenVerletzlichkeit deshalb meist der entscheidende Ansatzpunkt für eine gelungene Selbstführung. Denn das Gewahrsein und Annehmen eines verletzlichen Teils in einer akuten Situation geht immer einher mit etwas mehr Abstand zu den impulsiven Beschützeranteilen der
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