Das Aion - Kinder der Sonne
Das Schwert des Orion weist dir den Weg nach Süden. Und jetzt lass mich schlafen.« Erschöpft streckte er sich auf der Rückbank aus, dann öffnete er noch einmal die Augen und sagte: »Und bremse bitte nicht, indem du einfach gegen eine Felswand fährst …«
18 Das Ammonion
»Orakel!«, zischte Mira.
Sie stand mit Jiril vor dem Steinkreis, hatte sich ihren Mantel eng um den Körper geschlungen und starrte gebannt auf die Augen der Statue. Seit fast einer Stunde versuchten sie gemeinsam, die Steinfigur zum Leben zu erwecken, doch nichts geschah. Wegen der fensterlosen Gebäude lag der Platz fast in vollkommener Dunkelheit, lediglich der Schein ihrer Öllampen erhellte die Szenerie. Jirils Zähne klapperten geräuschvoll aufeinander, sei es vor Aufregung oder durch die Nachtkälte.
»Orakel!«, rief Mira entnervt.
»Schhht, nicht so laut!« Jiril blickte sich erschrocken nach allen Seiten um.
Mira sah ihn ratlos an. »Warum funktioniert das denn nicht?«
»Weil es wahrscheinlich doch nur fauler Zauber ist und der Kerl, der die Statue von unten bedient, längst im Bett liegt und schläft.«
»Unsinn.«
»Wir kennen einfach nicht den Trick, um es in Betrieb zu setzen«, flüsterte Jiril. »Irgendeine Losung, ein bestimmtes akustisches Signal oder irgendetwas, das man berühren muss, um es anzuschalten.«
Das Mädchen schaute sich um. »So schwierig kann es doch nicht sein …«
Jiril zuckte nur mit den Achseln und verdrehte die Augen. »Danke für deine Unterstützung«, murmelte Mira. Sie stellte ihre Öllampe auf einem der Steinquader ab, kletterte über diesen hinweg und trat in den inneren Kreis.
»Was tust du da, bei den Geistern von Norom!?«, quäkte eine weibliche Stimme und ließ Mira erstarren. »Du entweihst einen heiligen Ort. Das ist ein Verstoß gegen die Statuten!«
Eine dick vermummte Gestalt schlurfte ins Zwielicht. Mira, auf frischer Tat ertappt, blickte sie nervös an. Es war niemand anderes als ihre in Lumpen gekleidete Fremdenführerin vom Vortag. Sie linste unter mehreren Kopftüchern und einem riesigen, breitkrempigen Hut hervor. Ihre gedrungene Gestalt hatte sie angesichts der Nachtkälte in noch mehr schmutzige Kleider gehüllt. Die Alte verströmte einen unangenehmen Geruch aus billigem Fusel und Körperausdünstungen. Womöglich hatte sie in einer finsteren Seitengasse oder einer uneinsehbaren Ecke des Platzes ihr Nachtquartier.
»Komm gefälligst aus der Weissagezone heraus, junge Dame«, knurrte sie. »Das Ammonion ist kein Spielplatz!«
Mira gesellte sich zurück zu Jiril und musterte die Bettlerin misstrauisch, bereits ahnend, worauf diese Begegnung hinauslaufen würde.
»Ihr seid wohl nicht satt zu kriegen, was?« Die Alte kicherte, ein unvermutet profitables Geschäft witternd. »Weisheit kann eine Droge sein, junge Dame«, nuschelte sie und leckte sich die Lippen. »Für ein paar Geldstücke wird mir die Nachtbeschwörung bestimmt wieder einfallen.«
Mira und Jiril tauschten einen langen Blick und sahen sich nach ungebetenen Zeugen oder Zuhörern um, doch der Platz wirkte weiterhin unbeobachtet.
»Na gut«, nickte Jiril, griff nach seinem Geldbeutel und steckte der Alten ein paar Münzen zu.
»Fünf Daram?« Die Frau roch an dem Geld. »Nicht genug, nicht genug. Da fehlt der Nachtzuschlag, die Gefahrenzulage, der Schweigegroschen …«
»Mehr gibt’s nicht«, beharrte Jiril.
Die Alte schüttelte den Kopf, steckte das Geld ein und schlurfte davon.
»Warten Sie!«, rief Mira leise. »Zehn Daram.« Sie ergriff den Lumpenärmel der Frau und zog sie zurück zum Steinkreis. »Und zehn weitere, wenn wir alle Antworten erhalten haben, die wir hören wollen.«
»Wie bitte?«, entrüstete sich Jiril. »Bist du völlig übergeschnappt? Für zwanzig Daram kann ich uns das ganze Orakel kaufen!«
Mira wies ihn mit einer knappen Geste an, den Mund zu halten. Die zerlumpte Alte hingegen rieb sich in stiller Vorfreude die Hände.
»Ihr seid weitherzig, junge Dame«, gurrte sie erfreut. Wie schon tags zuvor machte sie ein paar theatralische Gesten und murmelte wieder jenes ominöse »Rabaukeräuscherlrabatz«. Augenblicke später begannen die Augen der Statue tatsächlich zu glühen.
Jiril versetzte der Alten von hinten einen kräftigen Schlag in den Nacken. Die Frau gab ein »Ngank!« von sich und sackte mit einem Seufzlaut in seinen Armen zusammen.
»Was soll denn das?«, zischte Mira fassungslos. »Ich glaube, der Einzige, der hier übergeschnappt ist, bist
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