Das Aion - Kinder der Sonne
und reckte sich noch einmal, wobei es heftig knirschte. Dann verharrte es in seiner Ausgangsstellung und die glühenden Augen erloschen.
19 Der Geist der Maschine
Zuerst waren es nur ein paar niedrige Büsche, die sich bewegten. Eine bleiche Hand erschien im Mondlicht, kurz darauf ein Arm, der sich aus dem Gestrüpp reckte. Die Hand rührte in der Nachtluft herum, als suche sie nach einem Halt oder einem Hindernis, das nicht existierte. Äste knackten, dann tauchte Miras Kopf aus dem Gebüsch auf.
»Sind wir endlich durch?«, erklang es hinter ihr gedämpft. »Meine Öllampe ist inzwischen nämlich ebenfalls leer.«
Mira ächzte und stöhnte, als sie sich aus dem engen Stollen zwängte. »Ich glaube, ja«, keuchte sie und ließ eine Schimpftirade folgen, da sich ihr langes Haar in trockenen, dornigen Zweigen verfing.
»Mach schon!«, drängte Jiril, der hinter ihr im Tunnel steckte. »Ich krieg hier wirklich langsam Platzangst.«
Mira zwängte sich aus dem überwucherten Ausgang und kroch auf allen vieren ein paar Meter weit den Hang hinunter. »Platzangst ist etwas anderes«, klärte sie Jiril auf. »Was du meinst, ist die Angst vor engen Räumen. Platzangst ist die Angst vor großen Plätzen.«
»Du mich auch«, kam es vom Tunnelausgang zurück. Jiril schlüpfte fluchend aus dem Flutstollen. Wie Mira klopfte auch er sich minutenlang den Staub aus den Kleidern, zupfte Spinnweben und abgebrochene Zweige aus den Haaren und wischte sich mit Gras das schmutzige Gesicht sauber. Mira leerte den Unrat, der sich während ihrer Kriechtour im Tunnel angesammelt hatte, aus ihren Manteltaschen. Dann sah sie sich suchend um. Linkerhand erhob sich in einiger Entfernung ein riesiger schwarzer Schatten in den Sternenhimmel – der Weltenbaum!
Tausende von Glühwürmchen umschwirrten seine Baumkrone, doch es war zu dunkel, um tatsächlich Einzelheiten oder gar die geheimnisvollen Arcasien erkennen zu können. Als Mira jedoch genauer hinsah, bemerkte sie, dass es in Wirklichkeit viel weniger Leuchtkäfer waren. Ihr Glühen schien lediglich von den Blättern des Weltenbaums reflektiert zu werden, fast so, als bestünden diese aus Spiegelglas. Von dem Glockengeläut, das am Vortag durch die Stadt gehallt hatte, war zu dieser Stunde nichts zu hören. Offenbar benötigte der Baum Sonnenlicht, um seine Melodie zu erzeugen.
»Was jetzt?«, wollte Jiril wissen.
Mira suchte die Stadtmauer mit Blicken ab. »Bis die Sonne aufgeht, dauert es noch einige Stunden«, sagte sie und gähnte herzhaft. »Wir sollten versuchen, ein bisschen zu schlafen. Am besten hinter dem Stamm, zwischen den Wurzeln. Dort sieht uns niemand, wenn es hell wird.«
Erst als die morgendlichen Sonnenstrahlen Mira sanft aus dem Schlaf kitzelten, wurde ihr bewusst, wie müde sie gewesen sein musste. Ein leises, mannigfaltiges Läuten schwebte in der Luft, hell und harmonisch, wie von unzähligen Glockenspielen.
Mira drehte sich auf den Rücken und blinzelte in die Höhe. Über ihr strahlte das Laubdach des Weltenbaums in der Morgensonne – und all seine Blätter glänzten, als bestünden sie aus spiegelblank poliertem Silber. Dennoch konnte sie nicht mit Bestimmtheit sagen, ob es Kristall- oder Metallblätter waren, die da läuteten.
Eine Weile blieb sie im wärmenden Sonnenlicht sitzen, dann rieb sie sich den Schlaf aus den Augen und stand auf. Hinter der nächsten Wurzel schnarchte Jiril, dem die Frischluft ebenfalls einen gesunden Schlaf beschert hatte. Seinen Mantelkragen bis über die Ohren gezogen, kauerte er wie ein Fötus zwischen den Baumwurzeln. Mira weckte ihn vorsichtig, doch er fuhr dennoch wie von der Tarantel gestochen hoch.
»Guten Morgen!« Mira grinste schadenfroh, dann ging sie ein Stück bergab, bis der Hang an einer steilen Klippe endete. Mira warf einen scheuen Blick hinab auf das Meer und schließlich empor zur Stadt.
Der Weltenbaum ragte vor der Klippe auf wie ein riesiger, strahlender Wachturm. Millionen von metallisch glänzenden Blättern reflektierten das Sonnenlicht und brachen es in alle Farben des Spektrums. Durch die gegenseitige Berührung erzeugten die Blätter Geräusche, die wie ein überirdisches Glockenspiel klangen. In dem hausdicken Stamm entdeckte Mira in geringer Höhe eine höhlenartige Öffnung, die über eine der mächtigen Baumwurzeln erreichbar zu sein schien. Beeindruckt von der Größe des Weltenbaumes und geblendet vom gespiegelten Sonnenlicht suchte sie die Baumkrone mit den Augen ab,
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