Das Aion - Kinder der Sonne
künstlichen Tiere wieder in den Rucksack und sah Dr. Gayot auffordernd an.
»Was, jetzt?«, entgegnete der dicke Wissenschaftler entsetzt und warf einen Blick aus dem Fenster. Die Nacht war längst angebrochen. Lediglich über dem Horizont leuchtete noch ein violettroter Lichtstreif. »Sofort?«
»Nein«, bestimmte Ben. »Wir brechen morgen Mittag auf. Aber vorher lösen Sie Ihr Versprechen ein und zeigen Mira den Wald.«
5 Herrscher der Winde
Andächtig ließ Bausch seinen Blick über die grasbewachsene Hochebene schweifen, welche zum Meer hin in eine fast einhundert Meter hohe Sandsteinklippe abbrach. Tausende von Menschen hatten sich auf der schmalen Plateauzunge des East Hill versammelt, um den Überflug der riesigen Skycat-Luftschiffe mitzuerleben. Fünf der über dreihundert Meter langen Zeppeline waren kaum eine Stunde zuvor feierlich von den historischen Luftschiffhallen in Cardington aus gestartet. Auf ihrem Weg nach Paris überflogen sie nun den südenglischen Küstenort Hastings, bevor sie den britischen Kanal Richtung französische Küste überquerten.
Obwohl es nur eine Aufzeichnung war, sah Bausch ebenso gebannt wie die damaligen Besucher der Veranstaltung hinüber zu den Baumwipfeln, die das Plateau im Norden begrenzten. Zuerst hörte man nur das tiefe, anschwellende Brummen von zwei Dutzend Luftschiffrotoren. Als dann der erste der riesigen Katamaran-Zeppeline über den Bäumen auftauchte, begann Bauschs Herz schneller zu schlagen. Er konnte sich nicht erinnern, wie oft er sich die Skycat-Chroniken aus dem Jahr 2026 bereits angesehen hatte, doch jedes Mal war es für ihn, als sei es das erste Mal. Die Aufzeichnung war mit klassischer Musik unterlegt, welche dramatischer und bewegender wurde, je näher die riesigen Luftschiffe den Klippen kamen. Die Menschen begannen zu filmen und zu fotografieren, wobei immer noch Schaulustige mit dem East Hill Cliff Railway auf der Plateauzunge ankamen, einer bereits zu damaliger Zeit über einhundertzwanzig Jahre alten Standseilbahn. Alles strömte aus dem verschlafenen Hastings und den umliegenden Küstenorten herauf, um den Überflug der riesigen Luftschiffe zu erleben.
Dann geschah etwas Sonderbares: Die Zeppeline – eben noch in majestätischem Flug begriffen – wurden langsamer, wobei das Brummen ihrer Rotoren gemeinsam mit der Musik in einem dissonanten Missklang erstarb. Gleichzeitig erstarrten auch die Menschen zur Bewegungslosigkeit – die gesamte Aufzeichnung fror ein.
Bausch schüttelte den Kopf, als hoffte er, einen Wackelkontakt im Datavisor auf diese Weise beheben zu können – doch das Bild blieb still und stumm. Es musste sich um einen Datenfehler handeln. Womöglich hatte der über einhundert Jahre alte Datenträger mittlerweile Schaden genommen oder das Lesegerät war defekt.
Gerade als Bausch seine Hand zum Helm führte, um die Wiedergabe zu stoppen, traf ihn ein Regentropfen im Gesicht. Bausch zuckte zusammen und wischte sich instinktiv über die Wange, dann betrachtete er verwundert seine Finger. Das Erstaunliche daran war nicht, dass sie tatsächlich nass waren, sondern dass er überhaupt fähig war, sie zu sehen. Fast war es, als sei er leibhaftig am Ort des Geschehens und selbst ein Teil der historischen Aufzeichnung geworden. Gleichzeitig spürte Bausch ein leichtes Kribbeln, als ob ein schwacher Strom durch seinen Körper floss. Verwundert sah er sich um, dann blickte er an sich herab und starrte auf seine nackten Füße. Er befand sich tatsächlich auf dem Plateau! Halb entblößt stand er inmitten Tausender Schaulustiger und war froh, dass die Aufzeichnung defekt war und ihn niemand sah.
Doch war sie wirklich defekt? Oder war er einfach nur im Sessel eingenickt und träumte?
Staunend schritt Bausch durch die Reihen der Besucher, den Blick abwechselnd in die Gesichter der Menschen und hinauf zu den Zeppelinen gerichtet.
»Vincent!«, drang in diesem Moment eine ferne Stimme an seine Ohren.
Überrascht wirbelte Bausch herum. Mit diesem Namen hatte ihn seit fast zwanzig Jahren niemand mehr gerufen! Argwöhnisch sah er sich um, suchte in den Reihen der Schaulustigen eine verdächtige Bewegung oder einen verräterischen Blick – doch alles um ihn herum blieb in der Zeit erstarrt. Lediglich jenseits der Klippen herrschte ein eigenartiges, unnatürlich wirkendes blaues Glühen.
Bausch ging vor bis zum Rand der Steilwand und blickte in die Tiefe. Das Meer war verschwunden. An seiner Stelle klaffte ein
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