Das Aion - Kinder der Sonne
Aufruhr auf den Grund zu gehen, flammten die Scheinwerfer an den fast zehn Meter hohen Flutlichtmasten auf. Alle schwenkten hinauf zu dem Hunderte von Metern breiten Kamm der riesigen Wanderdüne, der die Ebene von der Sandwüste abgrenzte.
Die Bewohner, zumeist aus dem Schlaf geschreckt, rannten in Richtung Zentrum. Bausch bahnte sich einen Weg durch die vorbeieilenden Leute und starrte auf das, was die Flutlichter aus der Dunkelheit gerissen hatten: Der gesamte Dünengrat war voll von Menschen. Sie standen reglos auf dem Kamm, Schulter an Schulter, und sahen auf das Dorf hinab. Aus der Ferne glich eine Gestalt der anderen, besaß die gleiche Größe wie ihre Nachbarin, die gleiche Statur, trug die gleiche Kleidung. Reglos standen sie auf der Stelle, während der Nachtwind an ihren Mänteln und den langen schwarzen Haaren zerrte, und warteten.
Über ihnen schwebten jene gigantischen Kreaturen, welche die Bewegungssensoren ausgelöst hatten und die noch immer lärmenden Sirenen aufheulen ließen: neun Ambodrusen, ebenfalls Leib an Leib, nahezu reglos auf der Stelle schwebend. Nur eine von ihnen, ein riesiges Weibchen, dessen ballonförmiger Körper den der anderen an Masse noch übertraf, tanzte aus der Reihe. Es tauchte auf und ab, kreiste sichtlich erregt um ihren acht Artgenossen, berührte sie mit ihren Fangarmen, ohne dass diese darauf reagierten. Das Weibchen schien das einzige sich normal verhaltende Geschöpf des Schwarms zu sein. Das reglos lauernde Verhalten der acht Männchen erschien Bausch völlig abnorm, ja, geradezu andressiert, falls ein derartiger Vergleich bei diesen Monstern überhaupt angemessen war. Weitaus untypischer war das Gruppenverhalten. Nie zuvor hatte Bausch erlebt, dass Ambodrusen im Schwarm jagten. Sie waren Einzelgänger und duldeten selbst in der Paarungszeit nur einen einzigen Partner in ihrer Nähe.
Das Unheimlichste jedoch war die Identität der geisterhaften Armee auf dem Dünenkamm.
Während die Menschen Richtung Dorfplatz eilten, lief Bausch – die Augen ungläubig auf den Grat gerichtet – als Einziger in Richtung Ortsrand. Die schweigenden Gestalten auf der Düne waren ausnahmslos weiblich. Ihre Köpfe wanderten wie in Zeitlupe nach links und nach rechts, begleitet vom ständigen, rhythmischen Aufblitzen ihrer Augen, als hielten sie diese geschlossen, und reflektierten bei jedem kurzen Öffnen das Licht der Flutscheinwerfer. Alle besaßen identische Haare, trugen den gleichen Rucksack, den gleichen Mantel – und denselben Namen: Mira!
Von einem Augenblick zum anderen änderte sich das Verhalten beider Gruppen. Die Ambodrusen setzten sich plötzlich in Bewegung. Jedoch schwebte nur eine von ihnen direkt auf das Dorf zu. Die anderen begannen es zu umkreisen. Bausch schien es, als würden die Tiere ferngesteuert. In gleicher Weise verhielten sich die Miras. Jedoch bewegten sich diese in einem nahezu übermenschlichen Tempo die Düne hinab, wortlos, lautlos, wie Figuren eines in Zeitraffer laufenden Films. Binnen weniger Sekunden standen fünf der Mira-Geschöpfe am Ortsrand und blockierten die Straße. Dort verharrten sie und warteten erneut. Bausch war sicher, dass innerhalb von Minuten alle acht Speichenstraßen und sämtliche Ausfallgassen des Dorfes von weiteren Miras versperrt sein würden.
Die Ambodrusen hatten sich mittlerweile ebenfalls rings um die Siedlung verteilt. Bis auf das Weibchen, das sichtlich verwirrt war vom Gebaren ihrer Artgenossen, schwebten sie in mathematisch exakt anmutenden Abständen über den Ortsausgängen der acht Speichenstraßen. Die Flutlichtscheinwerfer machten das Dilemma deutlich: Keiner der Bewohner würde aus dem Dorf hinausgelangen, ohne sein Leben aufs Spiel zu setzen, und niemand außer den Ambodrusen und den Miras herein.
Sekundenlang herrschte gespenstische Stille. Dann begannen alle Ambodrusen langsam auf das Dorfzentrum zuzuschweben. Sekunden später zerrissen erste verzweifelte Schüsse die Stille, abgegeben aus einzelnen Handfeuerwaffen der Dorfbewohner. Ihnen folgte das Knattern und Donnern der doppelläufigen Haubitzen, die auf den Gebäuden postiert waren. Die Blitze zahlloser Mündungsfeuer zuckten über den Dächern, grelle Geschossspuren erhellten den Himmel, doch die Ambodrusen, welche zweifellos von den Kanonen getroffen wurden, schwebten unbeeindruckt weiter. Lediglich das aufgeregte Weibchen flüchtete sich in größere Höhe, wo die Projektile aus den Haubitzen es nicht erreichten.
Gleichzeitig mit den
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