Das Aion - Kinder der Sonne
Ambodrusen hatte sich auch die Armee der Miras wieder in Bewegung gesetzt, synchron, wie lebensgroße, ferngesteuerte Puppen. Sie taten gemeinsam einen Schritt – Pause – ein weiterer Schritt – Pause …
Fassungslos schüttelte Bausch, der nun nahezu allein auf der Straße stand und den Miras entgegensah, den Kopf. Was um alles in der Welt ging hier vor sich? Dieser Angriff lief mit der Präzision eines Computerprogramms ab.
Das eigentliche Grauen, das nun sogar Bausch entsetzt zurücktaumeln ließ, waren jedoch keinesfalls die Ambodrusen oder die gespenstischen Miras, sondern die Kreaturen, die in diesem Moment zu Hunderten aus der Wanderdüne hervorgekrochen kamen. Zuerst bewegte sich nur der Sand und glitt in einer breiten Lawine den Hang hinab. Dann erfassten die Scheinwerfer die ersten Fangzangen, die aus dem Sand heraus schossen. Einen Atemzug später quoll eine endlose Armee riesiger, bleicher, unförmiger Körper aus der Düne hervor und wand sich mit ihren beinlosen Leibern neben- und übereinander den Hang hinab auf das Dorf zu. Und während die ersten der Kreaturen bereits in die vordersten Häuser eindrangen, quollen hinter ihnen immer mehr Sodras aus dem Sand und folgten ihnen nach …
6 Biosphäre
Eine melodische Tonfolge lockte Mira aus dem Schlaf.
Zuerst konnte sie die fremden Klänge nirgends zuordnen und baute sie einfach in ihren verblassenden Traum ein. Als der Klingelton ein zweites Mal erklang, schlug Mira schließlich die Augen auf. Desorientiert schaute sie sich im Liegen einige Sekunden lang in der ungewohnten Umgebung um, bis ihr wieder bewusst wurde, wo sie sich befand: in einem Gästezimmer des Carinea-Instituts.
Nachdem Ben sie am Vorabend auf ihr Quartier begleitet hatte, um ihr die wichtigsten Dinge und ihre Funktion zu erklären, hatte Mira noch zwei Stunden damit verbracht, die neuen Räumlichkeiten zu erkunden, sämtliche Schränke und Schubladen zu öffnen und alle elektrischen Geräte an- und auszschalten. Dennoch erschien ihr nun alles wieder fremd.
Als das Klingeln zum dritten Mal ertönte – lauter diesmal und drängelnd lange –, sprang Mira endlich auf und lief zur Tür. Im letzten Moment fiel ihr ein, dass sie kaum etwas am Leib trug, und wickelte sich rasch in eine der farbenprächtigen Decken, die über allen Sitzmöbeln lagen.
Vor der Tür wartete ein Alpha, der nicht viel älter sein konnte als Mira. Er hatte dunkle, lockige Haare und ein schmales, scharf geschnittenes Gesicht mit seegrünen Augen, die sie unter buschigen Augenbrauen verärgert anfunkelten. Der Fremde war etwa einen halben Kopf größer als Mira und in eine Art Overall aus einem mattgrauen, seidig schimmernden Stoff gekleidet, der von einem breiten, ebenfalls grauen Gürtel gehalten wurde. Unter dem linken Arm trug er ein Kleiderbündel, mit der freien rechten Hand bediente er hektisch ein kleines metallisches Gerät, das leise Piepstöne von sich gab. Dabei stand er so schief da, dass Mira befürchtete, er könnte umfallen.
»Na, endlich!«, stöhnte er, nachdem das Mädchen die Tür geöffnet hatte, und ließ das Metallding in seiner Hosentasche verschwinden. »Ich dachte schon, die Evolution hätte bei euch mit den Ohren gespart.« Er richtete sich zu voller Größe auf und ließ seinen Blick an Miras Körper hinabgleiten, wobei seine Augen für ihren Geschmack etwas zu lange an einer bestimmten Stelle verharrten. Dann sagte er: »So seht ihr Betas also in natura aus. Na, wie ein Homo sapiens 2.0 kommst du mir nicht gerade vor.«
»Hä?«, machte Mira verdutzt. »Homo zweipunkt was?«
Der Alpha grinste spöttisch. »Na, immerhin kannst du sprechen. Ich heiße Jiril. Roly-Poly wünscht, dass ich dir den Wald zeige.«
»Wer?«
Der Alpha verdrehte genervt die Augen. »Na, der Doktor!« Er blies die Backen auf und hampelte kurz wie eine dicke Spinne auf dem Flur herum. »Vorher solltest du allerdings duschen«, bemerkte er. »Und dann das hier anziehen. Unser Ökosystem ist nämlich ziemlich empfindlich.« Jiril drückte Mira das Kleiderbündel in die Hände, wobei er vermied, ihr direkt in die Augen zu schauen. Stattdessen sah er an ihr vorbei und machte dabei ein erstauntes Gesicht. Schnell schlug sich jedoch so etwas wie Missbilligung darin nieder. »Hast du etwa auf dem Boden geschlafen?«, wunderte er sich beim Anblick der neben dem Bett liegenden Decke.
»Ja …«
»Warum das denn?«
Mira starrte über ihre Schulter und wünschte sich, das Bett möge zum Leben
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