Das Aion - Kinder der Sonne
herab, wobei seine dünne Schnabelspitze auf das Metall hackte: Ping! Ping! Ping!
Mira bildete sich ein, bei jedem der Treffer einen kleinen elektrischen Funken aufleuchten zu sehen.
Dann machte der Vogel kehrt und verschwand genauso schnell wieder, wie er aufgetaucht war. Er flog direkt auf das Baldachindach aus Schlingpflanzen zu, schoss wie ein Pfeil hinab in das Speicherbecken und verschwand darin mit einem leisen Plumpsen.
»Er ist direkt ins Wasser geflogen«, staunte Ben.
Jiril lief vor bis zum Rand des Bassins. »Ich sehe ihn nirgends«, sagte er. »Können Kolibris eigentlich tauch…?« Er stockte, trat erschrocken ein paar Schritte zurück und keuchte: »Ach du Scheiße!«
Das flaue Gefühl in Miras Magen explodierte. »Was ist …?«, stieß sie hervor und lief auf das Speicherbecken zu.
Jiril wirbelte herum, in den Augen das blanke Entsetzen, und stellte sich Mira mit ausgebreiteten Armen in den Weg. »Nein!«, krächzte er nur und machte Anstalten, sie aufzuhalten.
»Versuch es!«, drohte Mira, die Hände zu Fäusten geballt.
Jiril trat einen Schritt zurück, als er die Entschlossenheit in ihren Augen erkannte. Er hob beschwichtigend beide Arme, versperrte Mira aber weiterhin den Weg. »Sei nicht dumm, verdammt noch mal!«
»Lass sie!«, bestimmte Ben, der ebenfalls an das Bassin getreten war. »Sie hat ein Recht darauf, das zu sehen.«
Doch da war Mira bereits an Jiril vorbeigeschlüpft und an den Rand des Beckens geeilt.
Auch sie benötigte einige Sekunden, um es zu erkennen, da die spiegelnde Wasseroberfläche den Blick ablenkte. Als sie in der Tiefe schließlich das erste Gesicht wahrnahm, raubte ihr der Anblick den Atem. Sie erkannte weitere Gesichter – zehn, bald zwanzig, dann Hunderte …
Mira spürte, wie ihr die Beine wegknickten. Nur Bens schneller Reaktion war es zu verdanken, dass sie nicht vornüber ins Bassin stürzte. Kraftlos hing sie in seinen Armen und starrte hinab ins Wasser, bis die Tränen alle Formen und Farben verschwimmen ließen.
Sie hatten die verschwundenen Dorfbewohner gefunden!
Mira wusste nicht, wie lange sie schweigend am Rand des Beckens gekniet hatte. Wie aus weiter Ferne drangen die Stimmen von Ben, Jiril und dem Doktor zu ihr durch, doch sie achtete nicht darauf, was sie sprachen. Ihr Blick hing an tausend reglosen, unbekleideten Körpern, die dicht gedrängt im Wasser lagen. Ihre Augen waren geschlossen, ihre Gesichtszüge eigenartig entspannt. Keiner der Dorfbewohner sah aus, als hätte er leiden müssen. Einige wiesen Fleischwunden und Verbrennungen auf. An diesen sprudelte das Wasser, als wäre es mit Kohlensäure angereichert.
Eine Hand legte sich auf Miras Schulter. Sie gehörte Ben. Die Berührung holte sie wieder ein Stück weit in die Wirklichkeit zurück.
»Sind …« Miras Stimme versagte, sodass sie erneut ansetzen musste: »Sind sie …?«
»Nein«, beruhigte sie Ben, wenngleich seine Miene dabei ernst blieb. »Sie befinden sich unter der Wasseroberfläche – aber sie sind nicht tot.« Er ließ seinen Blick über das Bassin schweifen. »Zumindest noch nicht. Ich kann dir nicht erklären, was hier geschieht. Sie schlafen einen tiefen Schlaf- und sie heilen. Es ist fast, als ob das Wasser sie heilte …«
»Aber das ergibt keinen Sinn«, mischte sich der Doktor ein. »Wie passt das zu der Geschichte, die dieser Leander uns erzählt hat? Und wer hat die Farmer hier …«, er suchte nach einem passenden Begriff, »eingelagert?«, sagte er schließlich. »Und zu welchem Zweck? Bevor wir kamen, führten weder Spuren in die Ruine hinein noch aus ihr heraus.«
Jiril sah empor zum eingestürzten Hallendach. »Es könnten die Ambodrusen gewesen sein.«
»Das ergibt noch weniger Sinn …«, brummte der Doktor.
Mira starrte hinauf in den tiefblauen Himmel. Als sie den Blick wieder senkte, nahm sie am gegenüberliegenden Beckenrand eine flüchtige Bewegung wahr. Sie kniff die Augen zusammen und spähte über das Bassin. Dort, gut 50 Meter entfernt, schwebte ein winziges, blau schillerndes Etwas über dem Wasser: der Kolibri!
Mira warf einen Blick über ihre Schulter zu Ben und den anderen, doch offenbar hatte keiner von ihnen das erneute Auftauchen des Vogels bemerkt. Zu sehr waren sie in ihre Bemühungen vertieft, hinter das Mysterium der Schläfer zu kommen. Zudem begann Delius sich wieder zu regen und lenkte die anderen kurzfristig mit einer monotonen Systemanalyse ab. Mira erhob sich vorsichtig, um den Kolibri nicht zu erschrecken, und
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